Prähospitale Calcium-Bestimmung bei Traumapatient*innen sinnvoll

Ein Gastbeitrag von Sebastian Weber, Ulm                Kalzium hat ein breites Effektspektrum im menschlichen Körper und ist deshalb eine bewährte Therapieoption in Notfallsituationen [1].

Hypokalzämie und Hyperkalzämie, die sog. „bimodal calcium variation“, treten bei Traumapatient*innen häufig auf und sind mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität verbunden. Während es internationale Handlungsempfehlungen, z.B. „The European guideline on management of major bleeding and coagulopathy following trauma: sixth edition“ [2], für die innerklinische Kalziumsubstitution gibt, fehlt es aktuell noch an evidenzbasierten und standardisierten Handlungsempfehlungen für prähospitale Kalziumsubstitutionsprotokolle.

Dazu haben Forbes et al. im Namen des Pre-HOspital Trainee Operated Research Network (PHOTON) und der Air Ambulance Charity Kent Surrey Sussex kürzlich eine Auswertung zum aktuellen Vorgehen im Vereinigten Königreich (UK) zur prähospitalen Kalziumgabe bei Traumapatient*innen, die präklinisch Blutprodukte erhielten, im Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine veröffentlicht.

Forbes et al.

Pre-hospital blood product transfusion and calcium management in the United Kingdom:

a multicentre service evaluation

SJTREM 33: 133 (2025)

 

Methodik
Studiendesign
Prospektive, multizentrische Analyse in einer Kohorte von fünf Luftrettungsstandorten (HEMS) im Vereinigten Königreich im Zeitraum vom 01. Februar bis 25. April 2024, die zum Zeitpunkt der Datensammlung keine Möglichkeit der Point-of-Care-Diagnostik für (ionisiertes) Kalzium (iCa) hatten.

Einschlusskriterien

  • Erwachsene (Alter ≥ 16 Jahre) Traumapatient*innen,
  • die prähospital Blutprodukte erhielten,
  • in ein Krankenhaus transportiert worden sind
  • und bei denen bei Krankenhausaufnahme eine Messung des ionisierten Kalziums (iCa) durchgeführt worden ist

Ausschlusskriterien

  • pädiatrische Patient*innen (Alter < 16 Jahre)
  • Patient*innen, die nicht bis zur Krankenhausaufnahme überlebt haben
  • Traumapatient*innen, die keine Blutprodukte vor Krankenhausaufnahme erhalten haben
  • Patient*innen, die Blutprodukte/ Kalzium aufgrund einer atraumatischen Hämorrhagie erhalten haben

74 Patient*innen erhielten im Studienzeitraum prähospital Blutprodukte, davon erfüllten 58 die Einschlusskriterien (14 hatten keine iCa-Werte bei Krankenhausaufnahme, 2 sind vor der ersten iCa-Messung verstorben). Der Stichprobenumfang entspricht etwa einem Patienten pro Woche pro HEMS-Dienst.

  • 84 % (n= 49) männlich
  • 34 % (n= 20) 31 – 50 Jahre, 28 % (n= 16) 51 – 70 Jahre, 26 % (n= 15) 16 – 30 Jahre, 12 % (n= 7) > 70 Jahre alt
  • 76 % (n= 44) stumpfes Trauma, 24 % (n= 14) penetrierend

Primärer Endpunkt

  • ionisiertes Kalzium (iCa) [mmol/ L] in der ersten Blutgasanalyse bei Krankenhausaufnahme

Sekundäre Endpunkte

  • Zeit bis zur ersten Kalziummessung (iCa)
  • 30-Tage-Mortalität
  • Machbarkeit der Datensammlung insb. zum zeitlichen Zusammenhang Gabe von Blutprodukten und/ oder Kalzium vor einer Point-of-Care-Messung

Ergebnisse

  • 58 Patienten konnten eingeschlossen werden
  • 34,5 % (n= 20) Normokalzämie
  • 65,5 % (n= 38) ohne Normokalzämie: 43,1 % (n= 25) Hypokalzämie, 22,4 % (n= 13) Hyperkalzämie
  • Median des ionisierten Kalziums in der ersten Blutgasanalyse: 1.14 mmol/ L (Referenzbereich Erwachsene: 1.15 – 1.30 mmol/ L)
  • Mediane Zeit bis zur ersten iCa-Messung: 3 h 7 min (2 h 26 min – 3 h 32 min)
  • 55 % (n= 32) erhielten prähospital Kalzium (am häufigsten (50 %, n= 29) wurden 10 mL Kalziumchlorid 10 % appliziert)
  • Positive Korrelation zwischen iCa-Messwerten und der Gabe von Vollblut bzw. lyophilisiertem Plasma: je mehr Einheiten gegeben werden, desto höher die iCa-Werte
  • Negative Korrelation zwischen iCa-Messwerten und der Gabe von gefrorenem Frischplasma bzw. Erythrozytenkonzentrate: je mehr Einheiten gegeben werden, desto eher fallen iCa-Werte ab (insb. in Fällen, bei denen Erythrozytenkonzentrate transfundiert wurden ohne prähospitale Kalziumgabe)

Limitationen

  • Geringe eingeschlossene Fallzahl (n= 58)
  • Keine Information über Verletzungsschwere der Studienpopulation
  • Heterogene Transfusionsprotokolle der fünf HEMS-Bereiche
    • Verschiedene Blutprodukte: Gefrorenes Frischplasma (FFP), Erythrozytenkonzentrate (PRBC), Lyophilisiertes Plasma (FDP), Vollblut (WB)
    • Verschiedene Verhältnisse der Blutprodukte zueinander
    • Verschiedene Reihenfolgen der Blutprodukte
  • Heterogene Kalziumsubstitutionsprotokolle
    • Präparat für alle: Calciumchlorid 10 %
    • Variable Menge: 5, 10 oder 20 mL
    • Heterogene Implementierung in jeweiliges Transfusionsprotokoll
  • Geringe Übertragbarkeit (UK-HEMS-Kontext)
  • Die mittlere Zeitspanne von > 3 h bis zur ersten Messung ist wahrscheinlich nicht repräsentativ für alle Rettungsdienste (z.B. urbane Gegenden mit kurzen Transportzeiten)

Schlussfolgerung(en)

  • Die Studie zeigt eine erhebliche Variabilität und Heterogenität im Transfusionsverhalten (Produkte und Volumen) und in der Kalziumsubstitution bei Traumapatient*innen.

  • Bis zur ersten iCa-Messung vergehen aktuell mehrere Stunden. Es gibt enormes Potential, diese Zeit zu verbessern.

  • Aktuell ist es nicht möglich, auf Grundlage bestehender empirischer Verfahrensanweisungen (Standard Operating Procedures) definitive, allgemeingültige Handlungsempfehlungen abzuleiten.

  • Nur etwas mehr als ein Drittel (34 %) der untersuchten Traumapatient: innen weisen eine Normokalzämie bei Krankenhausaufnahme auf.

  • Die Einführung präklinischer Point-of-Care-Diagnostik (BGA für iCa) könnte die Patientenversorgung, insb. bei verlängerten präklinischen Behandlungs- und Transportzeiten, durch individuelle Kalziumgaben verbessern.

Literatur

  1. Weber S et al. Kalzium in der Notfallmedizin Notarzt 2025; 41: 165179 (2025)
  2. Rossaint R, Afshari A, Bouillon B, Cerny V, Cimpoesu D, Curry N, Duranteau J, Filipescu D, Grottke O, Grønlykke L, Harrois A, Hunt BJ, Kaserer A, Komadina R, Madsen MH, Maegele M, Mora L, Riddez L, Romero CS, Samama C-M, Vincent J-L, Wiberg S, Spahn DR  The European guideline on management of major bleeding and coagulopathy following trauma: sixth edition. Crit Care 27: 80 (2023)

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