Überprüfung der ATLS-Klassifikation des hämorrhagischen Schocks

Ein Gastbeitrag von S.Maier, Ulm             Die Schockklassifikation des Advanced Trauma Life Support (ATLS) ist ein Referenzstandard und Lehrinstrument für die Einteilung des Schweregrades eines hämorrhagischen Schocks und damit für die Abschätzung des Blutverlustes, die Wahl der Volumentherapie und die Indikationsstellung für eine Notfalloperation.

Ursprünglich basierte die die Einteilung in 4 Klassen auf einer Kombination von Vitalparametern. Mutschler et al. verglichen 2013 den Base Excess (BE) mit den bisherigen ATLS-Parametern1. BE ist ein diagnostischer Laborparameter für das Gleichgewicht des metabolischen Säure-Basen-Haushalts. Die Studiengruppe kam zu dem Entschluss, dass der BE für die Erkennung eines möglichen Transfusionsbedarfs besser geeignet sei. Anschließend wurde der BE in die ATLS-Klassifikation aufgenommen. Inzwischen hat sich der BE als wesentlicher Laborparameter für die Bewertung einer akuten Hypovolämie durchgesetzt.

Heldeweg et al. bewerten die „Renaissance“ des BE neu und stellten die Hypothese auf, dass es methodische Bias im direkten Vergleich zwischen BE und den Vitalparametern gibt:

Heldeweg MLA, Heldeweg TTR, Stohlmann JAH, Freire Jorge P, Boer R, Schwarte LA, Schober P.

Simulating the methodological bias in the ATLS classification of hypovolemic shock: a critical reappraisal of the base deficit renaissance.

SJTREM 32: 104 (2024)

Methoden

Die ursprüngliche Arbeit von Mutschler et al. verglich bei 16.305 Polytraumapatienten aus dem deutschen Traumaregister den BE mit den traditionellen ATLS-Parametern (Herzfrequenz, systolischer Blutdruck und Glasgow Coma Scale (GCS)) zur Vorhersage der notwendigen Transfusionsmenge. Die Patienten bei Ankunft in der Notaufnahme entsprechend in die 4 Schockklassen eingeteilt. Die Mehrzahl der Patienten konnte anhand der verscheidnen Vitalparameter nicht eindeutig einer einzigen Schockklasse zugeordnet werden. Das lag daran, dass die Vitalparameter (z.B. Herzfrequent, Blutdruck und Atemfrequenz) einzeln betrachtet in über 90% unterschiedlichen Schockklassen zugeordnet werden konnten.  Entsprechend wurden die Patienten sozusagen nach dem schlechtesten Vitalparameter der höchsten Schockklasse zugeordnet.

Das führte zu Fehlern, da somit z.B. narkotisert und beamtete Patienten bei Ankunft in der Notaufnahme aufgrund der GCS-Einteilung (GCS 3) immer der Schockklasse IV zugeordnet wurden, unabhängig des systolischen Blutdrucks oder der Herzfrequenz.

Die vom ATLS-Score abgeleitete zusammengesetzte Schockklasse wurde mit der vom BE abgeleitete Schockklasse hinsichtlich der Transfusionsmenge verglichen.

Heldeweg et al. stellten die Hypothese auf, dass es durch die unausgewogene Datengruppe und Überschätzung der Schockklassen eine systematische Verzerrung in diesem Ansatz gab. So sei der Zusammenhang zwischen der ATLS-Klassifikation und den verabreichten Blutprodukten geschwächt worden. Um diese Hypothese zu überprüfen, wurden die Ergebnisse der ursprünglichen Studie wiederholt ohne Patientendaten zu erheben. Stattdessen wurde eine Computersimulation mit generierten Daten verwendet und daran die gleiche Methodik angewendet (Simulationsstudie). Die Datensimulation ermöglichte die Regulierung von Korrelationen zwischen Variablen und damit eine gezielte Untersuchung potenzieller methodischer Verzerrungen unabhängig von Signalen aus Patientendaten.

Ergebnisse

  • 13% der Patienten wurden für jeden traditionellen ATLS-Parameter in dieselbe Schockklasse eingeteilt
  • der BE scheint bei der Identifizierung von Transfusionsbedarf überlegen zu sein, auch wenn seine Korrelation mit der Transfusionsmenge wesentlich geringer ist, was das Vorhandensein einer Verzerrung bestätigt
  • beim Vergleich von Herzfrequenz mit einer Zusammensetzung aus BE, systolischer Blutdruck und GCS ergeben sich ähnliche Ergebnisse zugunsten der Herzfrequenz, was auf die Unabhängigkeit der Verzerrung vom BE hinweist

Schlussfolgerung der Autoren

Diese Simulationsstudie zeigt, wie methodische Entscheidungen unbeabsichtigt die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der medizinischen Forschung beeinflussen können. Die methodische Verzerrung führt zu einer Interpretation zugunsten des BE bei der Schockklassifizierung im Vergleich zu traditionellen, klinischen Parametern. Obwohl sich der BE im klinischen Alltag insbesondere bei akuten Hypovolämien als Standardmaß in den letzten Jahren durchgesetzt hat, lässt sich die bevorzugte Verwendung im Vergleich zu traditionellen, klinischen Parametern mit den Analysemethoden der ursprünglichen Studie nicht rechtfertigen. Studien mit validerer Methodik sollten die klinische Bedeutung des BE in Zukunft belegen.

Literatur

1 Mutschler M, Nienaber U, Brockamp T, Wafaisade A, Wyen H, Peiniger S, Paffrath T, Bouillon B, Maegele M; TraumaRegister DGU. A critical reappraisal of the ATLS classification of hypovolaemic shock: does it really reflect clinical reality? Resuscitation 84: 309-13 (2013)

 

 

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