Ein Gastbeitrag von David Häske, Reutlingen Die Immobilisation der Wirbelsäule und insbesondere der Halswirbelsäule ist auf der einen Seite ein Standardverfahren in der prähospitalen Traumaversorgung, auf der anderen Seite ein kontrovers diskutiertes Thema bei Anwendern und Experten. Die aktualisierte S3-Leitlinie „Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung“ hat aktuell keine grundlegend neuen Erkenntnisse darlegen können, wenngleich die sorgfältige Auseinandersetzung mit dem Kapitel „Wirbelsäule“ durchaus brauchbare Informationen dazu zeigt.
Als einer der Leitlinien-Autoren hat Heiko Trentzsch nun in einem narrativen Review die Kernaussagen des Kapitels „Wirbelsäule“ der aktualisierten S3-Leitlinie „Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung“ zusammengefasst und kommentiert diese aus unfallchirurgischer Sicht:
Trentzsch H
Ruhigstellung der Halswirbelsäule in der Präklinik
Das nicht systematische Review greift die aktuelle Diskussion um die Wirbelsäulenimmobilisation vor dem Hintergrund auf, dass es zwischenzeitlich eine Reihe von Empfehlungen, z.B. von Maschmann et al. aus Dänemark, aber auch der Berliner Feuerwehr gab, welche eine sehr restriktive Verwendung der Halswirbelsäulenimmobilisation durch HWS-Orthesen empfehlen.
Epidemiologie
Die publizierte Prävalenz von Wirbelsäulen-Verletzungen hängt stark von der zugrunde liegenden Analyse ab. So werden im Traumaregister nur die eingegebenen schwerverletzten Patienten berücksichtigt, übrigens ja auch nur von Patienten welche lebend das Krankenhaus erreichen. Sicher ist jedoch, dass mit steigender Verletzungsschwere häufiger Wirbelsäulen-Verletzungen auftreten. Ab einem Injury Severity Score (ISS) von 16 wurde ein 7,6fach erhöhtes HWS-Verletzungs-Risiko beschrieben. Auch sicher ist, dass die Wirbelsäulenverletzung bei penetrierenden Traumata und damit die Immobilisation hinter lebensrettenden Interventionen und damit auch Transport in ein geeignetes Traumazentrum zurücksteht bzw. zugunsten der ABC-Prioritäten unterlassen werden kann.
Indikationsstellung zur Immobilisation
Ausgeführt wird ferner, dass die klinische Untersuchung bzw. der klinische Verdacht führend sei. Jedoch zeigen Daten, dass vielfach auch Wirbelsäulenverletzungen auch übersehen werden und z.B. Druckschmerzen insbesondere bei geriatrischen Patienten lediglich eine Sensitivität von 74,2% aufweisen. Jedoch sollten supraklavikuläre Verletzungen als möglicher klinischer Hinweis auf HWS-Verletzungen gesehen, oder spezifisch darauf untersucht werden.
Bekannte Entscheidungshilfen sind derweil die Canadian C-Spine Rule genauso wie die National-Emergency-X-Radiography-Utilization-Study (NEXUS)-Kriterien. Schwierigkeiten bei der Beurteilung ergeben sich bei ABCD (ABCDE-Probleme; ABCDE „airway, breathing, circulation, disability, environment/exposure“) instabilen oder auffälligen Patienten, welche möglicherweise nicht korrekt beurteilt werden können. Auch sind Verletzungen wie Schädel-Hirn-Traumata, Thorax- und Abdominaltrauma u.a. Prädiktoren für Wirbelsäulenverletzungen.
Wie bereits ausgeführt, sollte die Wirbelsäulen-Immobilisation bei penetrierenden Traumata mit prähospital nichtlösbaren Problemen und möglichem hämorrhgischem Schock zugunsten eines raschen Transportes zur zeitkritisch chirurgischen Intervention unterbleiben.
Sekundäre neurologische Verschlechterung
Die Frage nach neurologischen Verschlechterungen bei Wirbelsäulenverletzungen und initial unauffälligem neurologischem Befund, die im Verlauf ein neurologisches Defizit aufweisen wird in der Literatur mit 0,025 % und dem Hinweis angegeben, dass die Ereignisse ohne weiteres äußere Zutun entstanden scheinen.
Nutzen der Wirbelsäulenimmobilisation: eine ungeklärte Forschungsfrage
Nach wie vor gibt es jedoch keine gute Evidenz zur Wirksamkeit hinsichtlich Mortalität, Vermeidung von sekundären neurologischen Verschlechterungen etc. Ein Cochrane-Review zur Immobilisation von Wirbelsäulenverletzungen ist ohne Ergebnis, da entsprechend qualitativ-hochwertige Publikationen fehlen. Bisherige Bemühungen zur Evidenz unterliegen vielfach gewissen Störfaktoren, wie zum Beispiel der Vergleich zweier Systeme in gänzlich unterschiedlichen Gesundheitssystemen.
Nachgewiesene Risiken durch Immobilisationsmaßnahmen
Bezüglich der Nachteile oder auch Risiken der Immobilisation, beschreibt das Review wiederum zahlreiche negative Effekte wie Atemanstrengung, Hautischämie, Schmerzen und Unwohlsein – meist bei gesunden Probanden. So erklären die zugrundeliegenden Publikationen ebenso wenig wie das Review zum Beispiel die Relation von Schmerz und Unwohlsein bei analgosedierten Patienten mit jedoch (schweren) Verletzungen.
Rigide HWS-Orthesen können zudem zur Erhöhung des intrakraniellen Drucks (ICP) beitragen, mit möglichen Konsequenzen für das neurologische Outcome.
Empfehlungen der S3-Leitlinie „Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung“ 2023
Die S3-LL wird nach einer festen Methodik und systematischen Literaturrecherche aktualisiert. Dabei kommen unterschiedliche Empfehlungsgrade zur Anwendung: Der Empfehlungsgrad („grade of recommendation“ [GoR]) wird unterschieden in GoR A (starke Empfehlung, soll getan werden), GoR B (Empfehlung, sollte getan werden) und GoR 0 (offene Empfehlung, Nutzen unklar, kann erwogen werden). Empfehlungen, zu denen keine wissenschaftliche Evidenz vorlag, wurden mit derselben soll/sollte/kann-Formulierung als „good (clinical) practice points“ (GPP) ausgewiesen.
Entscheidungsfindung
Für die Praxis ist eine gezielte körperliche Untersuchung der Wirbelsäule und der mit ihren verbundenen Funktionen von höchster Bedeutung (GoR A). Dabei können die Inspektion und Palpation, Schmerzen, und orientierende neurologische Untersuchung von Sensibilität und Motorik bei ansprechbaren Patienten wertvolle Hinweise liefern. Dagegen soll bei bewusstlosen Patienten bis zum Beweis des Gegenteils von dem Vorliegen einer Wirbelsäulenverletzung ausgegangen werden (GoR A).
Als Kernempfehlung wird keine Entscheidungshilfe favorisiert, sondern nur im Hintergrundtext benannt, da die Leitlinie die Versorgung von Schwerverletzten bzw. polytraumatisierten Patienten fokussiert.
Halswirbelsäulenimmobilisation
Zu großen Diskussion hat die Empfehlungen geführt die Halswirbelsäule bei der schnellen und schonenden Rettung vor der eigentlichen technischen Rettung zu immobilisieren. Die Empfehlung „GPP“ zeigt die Schwierigkeit in der Evidenzsynthese zu diesem Thema, während nachfolgend das Review die Lagerung von Patienten mit Wirbelsäulen-Traumata streift. Die in der Fachwelt gerne diskutierte Frage der Art der Wirbelsäulen-Immobilisation wird in keiner Kernempfehlung der Leitlinie thematisiert.
Auch die Überlegung bei Patienten auf eine starre Zervikalstütze zu verzichten, welche den Verdacht auf ein SHT und HWS-Verletzung haben wird nur im Hintergrundtext thematisiert. Die Sorge ist der Anstieg des intrakraniellen Drucks, so dass hier eine HWS-Immobilisation ohne Halskrause erfolgen sollte und ggf. der Oberkörper erhöht gelagert werden soll. Für die Praxis ist entscheidend Patienten mit SHT von Patienten mit Schädelprellungen o.ä. zu differenzieren.
Kommentar
Das Review stellt eine schöne Zusammenfassung und Klarstellung des Kapitels „Wirbelsäule“ der S3-Leitlinie dar und ist damit auch eine wertvolle Zusammenfassung zum Hintergrundtext der Leitlinie.
Das Review stellt klar heraus, dass bei gegebener Indikation zur HWS-Immobilisation lediglich das Verfahren zu diskutieren sei. Sicherlich gehört hier auch die korrekte Indikationsstellung dazu – die Welt der Notfallmedizin ist nicht nur schwarz-weiß.
Die Herausforderung bei diesem Thema ist, dass die Studienlage dazu vielfach von geringem Evidenzgrad und heterogenen Ergebnissen geprägt und nicht in Relation zur Verletzungsschwere der Patienten, den Bedürfnissen der Patienten und der Praktikabilität für die Rettungskräfte während der Rettung und dem Transport adjustiert ist. Ethische und haftungsrechtliche Gründe verhindern prospektive randomisierte Studien, helfen aber nicht über die multifaktoriellen Einflüsse hinweg – zwischen unterschiedlich ausgeprägten Verletzungsmustern und Settings wie unwegsames Gelände ebenso wie Transporte unter erheblichen verkehrsphysikalischen Einflüssen.
Die Praxis braucht damit Unterstützung bei der Identifikation der richtigen Patienten zur richtigen Maßnahme und wie so oft ausreichendes Training zur korrekten Durchführung indizierten Maßnahmen zur Immobilisation. Möglichkeiten gibt es viele. Wie zum Beispiel die zuletzt vorgestellte Immo-Ampel .
Moin, Vielen Dank für den Artikel. Kam gerade sehr gelegen und hat mir geholfen! Herzliche Grüße