Steigende Einsatzzahlen im Rettungsdienst – Sind das alles Notfälle?

Ein Gastbeitrag von Max Feth, San Antonio TX          Seit Jahren steigt die Einsatzbelastung im Rettungs- und Notarztdienst kontinuierlich an. Gebunden durch die rechtlich vorgegebenen Hilfsfristen, sowie einen wachsenden Mangel an Rettungsfach- und notärztlichem Personal wird es zunehmend schwieriger, Notfälle zeitgerecht zu versorgen. Häufig wird in diesem Zusammenhang beanstandet, dass ein Großteil der eingehenden Notrufe keine tatsächlichen Notfälle seien. Diesem Problem haben sich nun David Herr und Kollegen aus Berlin angenommen.

Herr D, Bhatia S, Breuer F, Poloczek S, Pommerenke C, Dahmen J.

Increasing emergency number utilisation is not driven by low-acuity calls: an observational study of 1.5 million emergency calls (2018-2021) from Berlin.

BMC Med. 2023 ;21: 184

In dieser arbeit untersuchten sie das rettungsdienstliche Einsatzaufkommen in Berlin zwischen 2018 und 2021, matchen die Notrufe mit sozioökonomischen Merkmalen und bewerten, ob dem Notruf ein akuter Notfall zugrunde lag.

Studiendesign

  • Cross-sektionale Beobachtungsstudie zur Beurteilung der Rate an Notrufen mit geringerer medizinischer Dringlichkeit in Berlin und Identifizierung möglicher sozioökonomischer Korrelationen
  • Analyse von Leitstellendaten gematched mit soziökonomischen zwischen 2018-2021
  • Fälle außerhalb von Berlin und Feuerwehralarmierungen wurden ausgeschlossen.
  • Kodierung der eingehenden Notrufe anhand des Medical Priority Dispatch System (MPDS):
    • z.B. 29D2m
    • Die beginnende Zahl definiert ein Protokoll (z.B. 29 = Verkehrsunfall), darauf folgt
    • ein Kodierung der Dringlichkeit (Omega < Alpha < Bravo < Delta < Charly) sowie
    • eine weitere Klassifizerung der Priorität (zB 2 = gefährlicher Unfallmechanismus) und
    • abschließenden eine Charakterisierung des Notfallbildes (z.B. m = Auto vs. Fußgänger)
  • Definition von Notrufen mit geringer medizinischer Dringlichkeit anhand eines Expertenkonsensus sowie internationaler Literatur als alle Omega-Codes, alle Alpha-Codes (außer Krampfanfälle), und alle B00- oder C00-Codes aufgrund von Kapazitätsproblemen beim Kassenärztlichen Notdienst.
  • Binäre logistische Regression zur Identifikation von Faktoren, die eher mit Notrufen mit niedrigerer medizinischer Dringlichkeit verknüpft sind

Ergebnisse

  • Es wurden 1 645 122 Notrufe im Studienzeitraum registriert. Die Rate unvollständiger Datensets lag bei 12,6%. Die Vollständigkeit der MPDS-Codes nimmt über den Studienzeitraum zu, wobei der Protokolltyp immer vorhanden war, die MPDS-Kategorie jedoch anfangs in 14,1% (2018) und zum Ende in 0,4% (2021) der Fälle fehlte.
  • In Berlin konnte ein Anstieg der Notrufe in 2021 verglichen mit 2018 um 9,1% festgestellt werden; im gleichen Zeitraum  wuchs die Bevölkerung in Berlin nur um 0,9%.
  • Notrufe bezogen sich minimal mehr auf männliche Patienten (52,3%).
  • Notrufe mit geringerer medizinischer Dringlichkeit nahmen von 2018 bis 2021 um 4,7% ab, während die Anzahl von Notrufen mit höherer medizinischer Dringlichkeit zunahm. Die Daten hierzu sind leider nicht angegeben.
  • Ein jüngeres Patientenalter verglichen zu Patienten älter als 60 Jahre war mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Notrufe mit niedrigerer medizinischer Dringlichkeit assoziiert. Ebenso waren Notrufe bezüglich weiblicher Patientinnen eher mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für eine geringere medizinische Dringlichkeit assoziiert.
  • Die Wahrscheinlichkeiten für eine niedrigere medizinische Dringlichkeit waren minimal, aber statistisch signifikant, für Notrufe aus Gebieten mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status sowohl für Notrufe an Wochenenden erhöht.

Übereinstimmend mit früheren Arbeiten zeigt diese aktuelle Studie am Beispiel der Bundeshauptstadt das kontinuierlich anhaltende Wachstum von Einsatzzahlen im Rettungsdienst und trägt daher wesentlich zur Aktualität des Diskussionskontextes für Einsatzbelastungen in der prähospitalen Notfallmedizin bei.

Interessanterweise legen die Daten aus Berlin nahe, dass die Anzahl von Notrufen mit niedrigerer medizinischer Dringlichkeit über den Studienzeitraum hinweg abnimmt. Die Autoren beobachten einen Rückgang der Gesamteinsatzzahlen während der Lockdownphasen in der Coronapandemie, ohne jedoch einen relevanten prozentualen Abfall der Notrufe mit niedrigerer medizinischer Dringlichkeit zu verzeichnen. Dies steht im Kontrast zum Eindruck vieler in der Notfallrettung Tätiger, die subjektiv ein Wachstum der Einsätze „ohne wirkliche Notfallindikation“ verzeichnen. Diesbezüglich diskutieren die Autoren klar, dass ihre Arbeit keine Outcomedaten integriert und damit die medizinische Dringlichkeit nicht retrospektiv validiert werden kann. Zusätzlich wird diskutiert, dass eine Klassifikation der medizinischen Dringlichkeit anhand eines prädisponierenden Codes Schwächen aufweist. Die Gruppierung der Notrufe anhand des MPDS zeigt „Stürze“, „erkrankte Person“, „bewusstlose Person“ und „Dyspnoe“ als führende Leitstellenprotokolle, wobei der Anteil von Notrufen geringerer Dringlichkeit bei „Stürzen“ und „erkrankten Personen“ ausgeprägter vorhanden war als beispielsweise bei „Dyspnoe“ oder „Thoraxschmerz“.  Beispielsweise ist jedoch für die Angabe einer Dyspnoe als Leitsymptom unabhängig der Ausprägung keine Klassifikation möglich, die den Methoden der Arbeit folgend zu einer Einordnung als geringere medizinische Dringlichkeit führen würde. Eine Folgestudie, die Outcomedaten miteinbezieht, wäre für die weitere Beurteilung hilfreich.

Die Arbeit identifiziert ein jüngeres Patientenalter sowie das weibliche Geschlecht als Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit eines Notrufes mit geringerer medizinsicher Dringlichkeit erhöhen. Ursächlich könnten hierfür zum Beispiel die höhere Prävalenz kardiovaskulärer Krankheiten bei älteren Personen und Männern sein. Spannenderweise beobachten die Autoren trotz der zunehmenden Überalterung der deutschen Bevölkerung keine Anstieg des mittleren Patientenalters im Studienzeitraum. Die Autoren schließen etwa aus dem Risikofaktor „junges Patientenalter“, dass – obwohl junge Menschen absolut gesehen seltener Notrufe absetzen – hier möglicherweise ein Potential für Aufklärungsprogramme bezüglich einer „adäquaten Notrufkultur“ hilfreich sein können. Aus dieser Erhebung darf jedoch nicht der Schluss entstehen, dass Notrufe jüngerer und/ oder weiblicher Patienten ungefährlich seien. Naturgemäß finden sich auch hier lebensbedrohliche Notfälle, sodass jeder Einsatz entsprechend ernsthaft bearbeitet werden muss.

Zusammenfassend liefert die Arbeit anhand eines großen Datensets zwei wesentliche Erkenntnisse, die bei der Diskussion von strukturellen Reformen in der prähospitalen Notfallmedizin beachtet werden müssen:

  • Die Einsatzzahlen im Rettungsdienst steigen weiterhin konstant an.
  • Es gibt Hinweise darauf, dass  entgegen der landläufigen Meinung eine Zunahme der weniger dringlichen Notfälle nicht die Hauptursache für dieses Gesamtwachstum ist.

Während das Gesamtwachstum zu den Ergebnissen anderer Studien passen, ist unklar, inwiefern die Erkenntnisse über mutmaßlich weniger dringende Notrufe auf andere Regionen in Deutschland übertragen werden können. Ebenso bleibt offen, inwiefern die Einteilung in eine hohe und niedrigere Dringlichkeit anhand der verwendeten Methoden mit dem Outcome oder Krankenhausaufnahmeraten korreliert. Obwohl diese Arbeit wichtige Einblicke gewährt, zeigt sich auch die Notwendigkeit weiterer wissenschaftlicher Arbeiten auf dem Gebiet der Notruf- und Notfallstruktur in Deutschland.

One thought on “Steigende Einsatzzahlen im Rettungsdienst – Sind das alles Notfälle?

  1. Die Einstufung anhand der Leitstellen-Meldebilder ist mMn für eine Erfassung absolut ungeeignet.
    Nicht nur ist es für Disponenten schwer, die tatsächliche Lage korrekt zu erfassen, es gibt auch eine durch Gerichte forcierte Neigung zu Übertriage, um „Behandlungsfehler“ zu vermeiden (siehe unten).
    Die Erhebung der Zahl der tatsächlich geleisteten Medizinischen Maßnahmen, die die Anwesenheit von Notärzt*innen und Notfallsanitäter*innen erfordern, sowie die Prüfung der Korrelation dieser mit Alarmierungsstichworten wäre für eine belastbare Überprüfung nötig.
    Einen Vergleich liefert hier die Erhebung durchgeführter notärztlicher Maßnahmen in Graz.

    Artikel zum Behandlungsfehler Urteil bei verlangter Notarzt-Alarmierung: https://anwalt-bischof.de/grober-behandlungsfehler-durch-rettungs-leitstelle-beweislastumkehr/

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