„GCS ≤8, intubate“ bei Schädel-Hirn-Trauma, wirklich?

Ein Beitrag von PD Dr. Jürgen Kapp, Bern/Schweiz:

Die prähospitale endotracheale Intubation und Beatmung wird gemäß der aktuell geltenden Leitlinien Schädel-Hirn-Trauma im Erwachsenenalter der AWMF mit einem Grad A empfohlen. In den S3-Leitlinien Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung wird die prähospitale Intubation bei SHT-Patienten bei GCS ≤8 nur mit einem Grad B empfohlen. Die Leitlinien zum Schädel-Hirn-Trauma im Kindesalter der AWMF äußern sich zur prähospitalen Versorgung ohne Empfehlungsgrad: „Bei bewusstlosen Patienten (Anhaltsgröße GCS <9) sichern endotracheale Intubation und Beatmung den Gasaustausch und sind deshalb indiziert. Ihre Anwendung setzt allerdings hinreichende Erfahrung bei Kindern voraus.“

Dies spiegelt die recht dünne Datenlage zu diesem Thema wider. Die einzige randomisiert kontrollierte Studie, die hierzu vorliegt, ist die Arbeit von Bernard SA et al. aus dem Jahr 2010. In dieser Studie mit insgesamt 312 Patienten mit schwerem SHT (GCS ≤8) war der Anteil der Patienten, die mit einem guten neurologischem Ergebnis überlebten, in der Gruppe der Patienten (n=160), die prähospital nach einer standardisierten rapid sequence induction intubiert wurden, mit 51% signifikant größer als bei den Patienten, die nicht intubiert in die Klinik transportiert wurde (n=152), mit 39%. Die Chance für ein Überleben mit gutem neurologischem Ergebnis 6 Monate nach dem Trauma war nach prähospitaler Intubation um den Faktor 1,28 höher (95%-Konfidenzintervall: 1,00-1,64, p=0,046).

Bernard SA et al. Prehospital Rapid Sequence Intubation Improves Functional Outcome for Patients With Severe Traumatic Brain Injury. A Randomized Controlled Trial. Ann Surg 2010; 252:959-65

Hierbei sind mehrere Dinge zu kritisieren:

  • mit 312 Patienten ist die Studie recht klein
  • der Anteil der Patienten, die mit gutem neurologischem Ergebnis überleben, war nur sekundärer Outcome-Parameter der Studie. Im primären Outcome-Parameter, dem medianen Glasgow Outcome Scale (GOS) nach 6 Monaten zeigte sich zwar ein Trend zum besseren Ergebnis bei prähospitaler Intubation (mediane GOS von 5 vs. 3 bei fehlender Intubation), jedoch ohne statistische Signifikanz, p=0,28.
  • der Effekt ist mit einem Konfidenzintervall, das die 1,0 erreicht, und einem p=0,046 denkbar knapp an der statistischen Signifikanz

Eine kürzlich publizierte Studie aus dem deutschen Traumaregister ergänzt nun ein klein wenig die Datenlage zu diesem Thema. In dieser retrospektiven Kohortenanalyse schwerverletzter Patienten aus dem DGU-Traumaregister aus den Jahren 2002 bis 2013 konnten insgesamt 21.242 Patienten mit einem prähospital dokumentierten GCS ≤8 evaluiert werden. Von diesen erhielten 89,3% (n=18.975) eine prähospitale Notfallintubation. Bei den Patienten, die bereits prähospital intubiert wurden, welche bereits prähospital intubiert wurden, war der Unterschied zwischen tatsäclicher Mortalität (42,2%, 95%-Konfidenzintervall: 41,5%-42,9%) und der nach dem RISC II-Score prognostizierten Mortalität (41,4%) und damit einem standardisierten Mortalitätsrisiko (SMR) von 1,020 (95%-Konfidenzintervall: 1,003-1,037) deutlich geringer als bei nicht-intubierten Patienten. Hier lag die Mortalität bei 30,0% (95%-KI: 28,1-31,9%) bei einer vorhergesagten Mortalität von 26,6% und damit einem SMR für diese Patienten von 1,128 (95%-KI: 1,057-1,199).

Interessantes und klareres Ergebnis dieser Studie ist aber auch: Patienten, die eine Sedierung vor der Notfallintubation erhielten, hatten eine signifikant niedrigere beobachtete Mortalität: 37,7% (95%-KI: 36,7-38,7% bei einer Prognose von 39,0% und damit einem SMR von 0,967 (95%-KI: 0,951-0,983, p<0,001). Ebenso hatten diese Patienten eine höhere Rate an neurologisch gutem Überleben als Patienten, die eine Notfallintubation ohne Sedierung zur Einleitung erhalten hatten: 38,9% vs. 17,8%.

Bei der Interpretation dieser Ergebnisse muss natürlich berücksichtigt werden, dass möglicherweise mehr tief bewusstlose Patienten ohne Schutzreflexe problemlos ohne Notfallnarkose intubiert werden konnten als Patienten mit einem GCS von z.B. 7 oder 8.

Hoffmann M et al. The Impact of Prehospital Intubation With and Without Sedation on Outcome in Trauma Patients With a GCS of 8 or Less. J Neurosurg Anesthesiol 2016; 29:161-7

In einer ganz aktuellen Publikation wurde nun im gleichen Patientenkollektiv aus dem DGU-Traumaregister wie in der Publikation von Hoffmann et al. der Einfluss der endotrachealen Intubation auf das das Outcome in Abhängigkeit der verschiedenen Altersklassen der Patienten untersucht.

Emami P et al. Observed versus expected mortality in pediatric patients intubated in the field with Glasgow Coma Scale scores < 9. Eur J Trauma Emerg Surg 2019; online first

Hier zeigten sich folgende Ergebnisse:

  • In der Gruppe der Patienten ≤6 Jahre war die tatsächliche Mortalität bei den prähospital intubierten Kindern mit 42,2% signifikant höher als bei den nicht-intubierten mit 33,4%, p=0,03.
  • In den Altersgruppen zwischen 7 und 55 Jahren konnte kein eindeutiger Unterschied hinsichtlich der Mortalität zwischen prähospital intubierten und nicht-intubierten Patienten gesehen werden.
  • In den Altersgruppen ≥56 Jahren war die Mortalität bei den nicht-intubierten Patienten signifikant höher als zu erwarten gewesen wäre, während sie dagegen bei den intubierten Patienten der Prognose in etwa entsprach.

Fazit für die Praxis:

  • Der Merksatz „bei SHT mit GCS ≤8 Intubation“ steht für den prähospitalen Bereich von der Evidenzbasis her gesehen auf recht wackligen Beinen. Weitere Studien wären hier dringend notwendig.
  • Wenn man sich also prähospitalfür eine endotracheale Intubation bei diesen Patienten entscheidet, muss das Atemwegsmanagement und eine kreislaufstabile Narkoseeinleitung sehr sicher beherrscht werden, sonst tut man dem Patienten vermutlich nichts Gutes. Pathophysiologisch ist klar, dass beim SHT die Hypoxie, Hyperkapnie und Hypotension die „Killer“ sind. Diese müssen also auch bei der Narkoseeinleitung und Atemwegssicherung unbedingt vermieden werden.
  • SHT-Patienten brauchen zur Atemwegssicherung eine Notfallnarkose!
  • Bei Kindern und Säuglingen ist vermutlich der GCS kein guter Parameter, um die Notwendigkeit einer Intubation prähospitalabzuschätzen.

3 thoughts on “„GCS ≤8, intubate“ bei Schädel-Hirn-Trauma, wirklich?

  1. Sehr interessanter Artikel und vielen Dank für die Zusammenstellung.
    Einen Einwand möchte ich dennoch einbringen:

    Hier geht es um die Aussage zur Intubation von <6 Jährigen.
    Die teilnehmenden Krankenhäuser dieser Studie befanden sich zu 90% in Deutschland.

    Die Vermutung liegt nahe, dass in Abwesenheit von flächendeckenden Kindernotarztsystemen und nicht immer anästhesiologisch besetzten Notarztmitteln eine Intubation von Kinder/Kleinkinder/Säuglingen und deren Narkoseführung nicht routinemäßig durchgeführt wird.

    Die Kombination aus fehlender Routine und fehlender Qualifizierung sollte die Intubation bei GCS- Werten <8 in Frage stellen. Diese Studie sollte aber keine generelle Legitimation sein, Kinder nicht intubieren zu müssen/ sollen. Eher sollte Sie momentane Umstände klarstellen, dass im Bereich von Atemwegsproblemen im Kindesalter Qualifikationen und Erfahrung im präklinischen Setting fehlen.

    1. Sehr geehrter Kollege!

      Vielen Dank für Ihren Kommentar zu unserem Blog-Beitrag, über den wir uns sehr freuen.
      Wir stimmen Ihnen zu, dass auch mangelndes Training im kindlichen Airway-Management ein Grund für die Ergebnisse der vorgestellten Studie sein könnten. Es ist aus dem klinischen Alltag bekannt, dass Kinder und Säuglinge bei prolongierten Intubationsmanövern schneller eine Hypoxämie und Hyperkapnie aufweisen als Erwachsene. Dies hat sicher bei diesen Patienten mit schwerem SHT zusätzlich schädigende Effekte.
      Das Fazit, das wir aus den vorgestellten Studien ziehen, lautet daher auch keinesfalls, Kinder und Säuglinge mit schwerem SHT prähospital nicht mehr zu intubieren, sondern
      dass das Airwaymanagement in allen Altersgruppen perfekt beherrscht werden muss, da sonst manche Patienten von invasiven Maßnahmen prähospital eher Schaden davontragen als einen Benefit
      die Indikation zur endotrachealen Intubation insbesondere bei Kindern und Säuglingen nicht allein vom GCS abhängig gemacht werden darf, sondern beispielsweise auch von der Atemwegssituation, Vitalparametern etc.

      Bei mangelndem Training in der endotrachealen Intubation ist auch beim schweren SHT die Larynxmaske oder der Larynxtubus eine Alternative, die aber ebenfalls beherrscht und innerklinisch trainiert werden müssen.

      Herzliche Grüße

      Jürgen Knapp

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