Intubieren wir zu häufig oder zu selten prähospital?

Ein Beitrag von PD Dr. Jürgen Knapp, Bern/Schweiz: 

Aktuell sind zwei sehr schöne Studie publiziert worden, die sich mit dem Thema der Notwendigkeit der prähospitalen endotrachealen Intubation befassen: Zum einen die Studie von Schwaiger et al. aus Österreich, die zum Schluss kommt, dass ein Zuwarten mit der Intubation bis zur Schockraumaufnahme beim schwer verletzten Patienten das Behandlungsergebnis nicht negativ beeinflusst, zum anderen die Publikation von Crewdson et al. aus dem britischen Trauma-Netzwerk, die einen „höheren Bedarf an prähospitaler Intubation bei Trauma-Patienten“ feststellt als aktuell praktiziert.

Schwaiger P et al. Postponing intubation in spontaneously breathing major trauma patients upon emergency room admission does not impair outcome. Scand J Trauma Resus Emerg Med 2019; 27:80; https://doi.org/10.1186/s13049-019-0656-9

Crewdson K et al. Requirement for urgent tracheal intubation after traumatic injury: a retrospective analysis of 11,010 patients in the Trauma Audit Research Network database. Anaesthesia 2019; 74:1158-64; doi:10.1111/anae.14692

Widersprechen sich die Ergebnisse dieser beiden Untersuchungen tatsächlich? Was können wir aus diesen Studien mitnehmen?

Zunächst zur österreichischen Arbeit von Schwaiger und Kollegen:

  • retrospektive Beobachtungsstudie aus dem deutschen Traumaregister
  • Untersuchungszeitraum 2010-2017
  • es wurden alle schwerverletzten Patienten betrachtet, die ins Unfallkrankenhaus Salzburg (Level 1-Traumazentrum) aufgenommen wurden: n=946
  • ausgeschlossen wurden Patienten, die sekundär zuverlegt wurden (n=141)
  • bei n=437 Patienten war weder prähospital noch im Schockraum eine Atemwegssicherung notwendig
  • letztlich blieben 368 Patienten übrig, hiervon wurden 258 (71%) prähospital intubiert und 110 (29%) während der Schockraumversorgung
  • 36 dieser 110 Patienten (33%) musste aus akuter vitaler Indikation umgehend im Schockraum intubiert werden
  • bei den restlichen Patienten war eine Intubation im Schockraum notwendig,
    • weil sich der Zustand des Patienten erst während der Schockraumversorgung klinisch verschlechterte (n=19, 17%)
    • oder weil eine Intervention oder Operation anstand, die einer Vollnarkose bedurfte (n=52, 47%)

 Ergebnisse:

  • die Verletzungsschwere gemessen anhand des ISS betrug im Median 33 (IQR: 24 bis 43) in der Gruppe der prähospital intubierten Patienten und 25 (IQR: 20 bis 38) in der Gruppe der notfallmäßig im Schockraum intubierten Patienten
  • die Sterblichkeit bei den prähospital intubierten Patienten betrug 26% (68 von 258 Patienten)
  • die Sterblichkeit bei den Patienten, die im Schockraum sofort aus vitaler Indikation intubiert werden mussten, betrug dagegen nur 17% (6 von 36 Patienten), statistisch war dieser Unterschied aber nicht signifikant (p=0,30)
  • da die Notwendigkeit der prähospitalen Intubation bei Trauma-Reanimation und schwerem Schädel-Hirn-Trauma mit insuffizienter Spontanatmung weitgehend unbestritten ist, untersuchten die Autoren noch die Subgruppe ohne reanimationspflichtige Patienten und Patienten mit einem abbreviated injury score (AIS) für Kopfverletzungen von ≥4
  • hier zeigte sich für die prähospital intubierten Patienten eine Sterblichkeit von 6% (6 von 100 Patienten) und für die innerklinisch sofort intubationspflichtigen Patienten von 17% (5 von 29 Patienten), ebenfalls ohne statistisch signifikanten Unterschied (p=0,07)
  • interessantes Nebenergebnis: die „on scene“-Zeit betrug im Median 30 min bei prähospitaler Intubation und 20 min, wenn prähospital nicht intubiert wurde, und war somti signifikant kürzrer (p=0,0002). Wenn innerklinisch noch vor CT-Diagnostik notfallmäßig intubiert werden musste, benötigte dies allerdings zusätzliche 4 min im Median, so dass der effektive Zeitunterschied zugunsten der innerklinischen Intubation letztlich 6 min betrug.

Auch die britischen Kollegen haben retrospektiv Daten aus ihrem Traumaregister ausgewertet:

  • retrospektive Beobachtungsstudie aus dem britischen Traumaregister (TARN)
  • Untersuchungszeitraum 2012 bis 2016
  • von den insgesamt erfassten mehr als 70.000 Patienten benötigten 11.010 Patienten eine Atemwegssicherung prähospital oder im Schockraum
  • ausgewertet werden konnten letztlich die Daten von
    • 4375 Patienten, die prähospital intubiert wurden
    • 5008 Patienten, die im Schockraum intubiert wurden
    • und 881 Patienten, die prähospital eine Form der Atemwegssicherung benötigten (z.B. Pharyngealtubus, supraglottischer Atemweg oder „airway positioning“), aber erst im Schockraum intubiert wurden .

Ergebnisse:

  • die Verletzungsschwere bei den prähospital intubierten Patienten lag im Median bei einem ISS von 29 (IQR: 22-38), bei den im Schockraum intubierten Patienten bei 25 (IQR: 17-33) und bei den Patienten mit alternativer Atemwegssicherung prähospital und der nachfolgenden innerklinischen Intubation bei 26 (IQR: 25-38)
  • die Sterblichkeit bei den prähospital intubierten Patienten betrug 34%, bei den im Schockraum intubierten Patienten 21% und bei den Patienten, die im Schockraum intubiert werden mussten nach prähospitaler alternativer Atemwegssicherung 51%
  • das Sterblichkeitsrisiko war also bei prähospitaler Intubation um den Faktor 1,88 (95%-Konfidenzintervall: 1,71-2,06) höher als bei Intubation im Schockraum und um den Faktor 3,80 (95%-Konfidenzintervall: 3,27-4,40) höher, wenn prähospital ein alternatives Atemwegsmanagement notwendig war und erst innerklinisch intubiert wurde
  • bei den Patienten, die im Schockraum intubiert werden mussten, war dies in der Mehrheit bereits innerhalb von 30 min nach Aufnahme notwendig (75%)
  • Zusammenfassend schlussfolgern die Autoren dieser Studie, dass es in England „ungedeckten Bedarf an prähospitaler Intubation bei Trauma-Patienten gibt“

Welche Schlüsse kann man zusammenfassend aus diesen beiden Studien ziehen?

  • die prähospitale Narkoseeinleitung und endotracheale Intubation von Trauma-Patienten ist riskant und der klinische Nutzen bei nicht ganz klarer Indikation (Reanimation, SHT mit insuffizienter Eigenatmung) fraglich
  • gleichzeitig gibt es offensichtlich einen relativ hohen Anteil an Patienten, die einer raschen endotrachealen Intubation entweder prähospital oder unmittelbar bei Schockraumaufnahme bedürfen
  • die schlechtesten Überlebenschancen haben die Patienten, die zwar bereits prähospital einer Atemwegssicherung bedürfen, aber erst im Schockraum intubiert werden
  • das bedeutet, dass es zum einen einer sehr guten Ausbildung und Training in Narkoseeinleitung und Atemwegsmanagement braucht, um die Risiken hierbei zu minimieren
  • ferner bedarf es dringend weiterer Studien, um die Indikationen für eine prähospitale Intubation zu identifizieren. So erscheinen die aktuell in den S3-Leitlinien Polytrauma mit einem Empfehlungsgrad B (= „sollte) empfohlenen Indikationen in diesem Zusammenhang fraglich. Beispielsweise gibt es in der prähospitalen Notfallmedizin wenig Riskanteres als eine Narkoseeinleitung und Intubation beim hämodynamisch instabilen Patienten. Auch der alleinige GCS <9 beim SHT als Intubationsindikation erscheint fraglich (siehe hierzu auch unser Blog-Beitrag)

One thought on “Intubieren wir zu häufig oder zu selten prähospital?

  1. Liebe Kollegen,

    recht herzlichen Dank für den interessanten Beitrag. Was sollen wir jetzt lernen? Dass die Indikation zur Intubation laut S3 Leitlinie zu weit gefasst ist? Dass man die präklinische Intubation in den Schockraum verlagert, außer bei schwerem SHT und TCA (Traumatic Cardiac Arrest), wenn man der Arbeit aus Salzburg folgt? Ich glaube, dass wir dann den Bedürfnissen unserer Patienten eventuell nicht gerecht werden. Da das Rettungssystem in Österreich mehr oder weniger dem in Deutschland entspricht, möchte ich mir erlauben, einige kritische Anmerkungen zur Arbeit aus Salzburg zu machen.
    Was fällt besonders aus?
    1) Die für ein „Unfallkrankenhaus“ hohe Mortalität (prähospital intubiert 26,8%, im Schockraum intubiert 16,7%)
    2) Die deutlich niedrigere erwartete / prognostizierte Mortalität laut dem RISC II (prähospital intubiert 15,5%, im Schockraum intubiert 6,3%)
    3) Die sich hieraus ergebende SMR (Standardisierte Mortalitätsrate) für prähospital intubierte Patienten von 1,7 und im Schockraum intubierte Patienten von 2,65.
    4) Das bedeutet, dass bei den prähospital intubierten Patienten 1,7mal mehr gestorben sind als prognostiziert und bei den im Schockraum intubierten Patienten sogar 2,65mal mehr als prognostiziert. Hier könnte man einen Vorteil für die prähospitale Intubation vermuten.
    5) Schließt man die Patienten mit schwerem SHT und TCA aus, dann zeigt sich hier eine SMR für prähospital intubierte Patienten von 1 und für im Schockraum intubierte Patienten von 1,4. Auch hier könnte man einen Vorteil für die prähospitale Intubation vermuten.
    Was sollten wir daraus lernen?
    1) Bevor wir Leitlinien in Frage stellen, sollten wir die Arbeiten, die uns dazu verleiten könnten sehr genau lesen und kritisch hinterfragen.
    2) Je nach Sichtweise und Methode kann man aus ein und demselben Patientenkollektiv sehr unterschiedliche Interpretationen ziehen und wenn man die oben von mir dargelegte Sichtweis anwendet, dann zeigt sich auf einmal ein Hinweis für einen mögliche Nutzen der prähospitalen Intubation.
    3) Insgesamt muss man die Ergebnisse aus Salzburg mit Vorsicht interpretieren, da Mortalität (hier aber Vorsicht, da schwer zu interpretieren) und die SMR (deutlich besser zum Vergleich geeignet, da risikoadjustiert) deutlich höher ist als im TR-DGU (TraumaRegister DGU).
    Mein Fazit
    Bei gegebener Indikation werde ich auch weiterhin prähospital die Patienten intubieren, da ich immer noch glaube, dass die Patienten davon profitieren. Muss aber auch ehrlicherwiese gestehen, dass ich in meiner fast 20jährigen prähospitalen Notfallmedizin-Zeit (sowohl boden- als auch luftgebunden) bisher zum Glück keine patientengefährdende Situation beim Airwaymanagement erleben musste.
    MfG
    Peter Hilbert-Carius

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