To immobilize or not?

Ein Beitrag von PD Dr. Jürgen Knapp aus Bern/Schweiz:

Ein gut gemachter Weiterbildungsartikel zum Thema „Immobilisation des Traumapatienten“ ist bei Notfall und Rettungsmedizin erschienen:

Gather A et al.: Ruhigstellung von Frakturen in der präklinischen Notfallmedizin. Extremitäten-, Becken- und Wirbelsäulentrauma. Notfall Rettungsmed 2017, online first.

Dieser praxisorientiere Artikel ist wirklich lesenswert. Hier sollen nur wenige Stichworte wiedergegeben werden:

Extremitätentrauma:

  • Die Reposition von Frakturen, auch offenen Frakturen, ist notwendig zur Analgesie und Vermeidung von weiterem Weichteil-, Gefäß- und Nervenschaden.
  • Bei Gelenksdislokationen (z.B. oberes Sprunggelenk) ist die Reposition absolut essentiell zur Vermeidung von dauerhaften Schäden, die einen Patienten lebenslang einschränken und behindern können.
  • Flexible Schaumstoff- oder Alupolsterschienen (z.B. SAMsplint®) sind zu bevorzugen.
  • Durchblutung, Motorik und Sensibilität (DMS) der verletzten Extremität distal der Frakturstelle müssen vor und nach Reposition gut dokumentiert werden.
  • Insbesondere bei der Bergung aus schwierigem Gelände ist die weitere Fixierung der immobilisierten Extremität zu empfehlen: z.B. eine Armschlinge bei immobilisierter Unterarmfraktur, oder die Fixierung des geschienten Beins nach Unterschenkelfraktur am gesunden Bein oder alternativ in einer Vakuummatratze.
  • Zur Reposition ist eine gute Analgosedierung notwendig. Die hierfür zur Verfügung stehenden Medikamente sind sehr schön im Artikel aufgelistet:
    • Fentanyl
      • hochpotentes Analgetikum, allerdings mit einem „schmalen Grat“ zwischen suffizienter Analgesie und beginnender Atemdepression
    • Piritramid
      • korrekterweise wird für das Piritramid eine Anschlagszeit von ca 10 min und eine maximale Wirkung nach 20 min erreicht. Damit ist es für die akute Schmerztherapie im prähospitalen Umfeld oder gar zur Reposition ungeeignet
    • Ketamin und Midazolam
      • für den in der Analgosedierung wenig routinierten Anwender sicherste Kombination
    • Die Qualität der Analgesie wird von den Patienten bei einer Kombination von Opioid und Ketamin als deutlich besser beschrieben (s. Oberholzer et al. AA 2017)
    • Auf die Notwendigkeit profunder Kenntnisse und Fertigkeiten im Atemwegsmanagement bei der Analgosedierung wird im Artikel nachdrücklich hingewiesen.

Beckentrauma:

  • Die Beckenschlinge wird in 60% der Fälle zu weit kranial angelegt. Sie muss über die Trochanteres majores führen. Die Hosentaschen des Patienten sollten zuvor geleert werden.
  • Erwähnt wird auch, dass die Palpation des Beckens (manuelle Stabilitätsprüfung) eher als kritisch zu betrachten ist, und vielmehr die Unfallkinematik, der klinische Eindruck und die Schmerzangaben des Patienten entscheidend sind (KISS-Schema).
  • Als Ergänzung aus der eigenen Erfahrung: Oft weisen Schmerzen, die der Patient im unteren Lendenwirbelsäulen(LWS)-Bereich angibt, auf Beckenfrakturen hin.
  • Insbesondere bei hämodynamischer Instabilität und der Möglichkeit eines Beckentraumas sollte die Indikation zur Beckenschlinge sehr großzügig gestellt werden.
  • Es wird auch darauf hingewiesen, dass zur optimalen Immobilisation und Reduktion des Beckenvolumens die Beine in Innenrotation fixiert werden sollten.

Wirbelsäulentrauma:

  • Hier besteht in letzter Zeit viel Diskussion und auch Unsicherheit. Daher sind wir hier in mehreren Blog-Beiträgen bereits auf dieses Thema eingegangen.
  • Zur Indikationsstellung für die Wirbelsäulenimmobilisation schlagen die Autoren hier das E.M.S. IMMO-Protokoll vor (s. Kreinest et al. Notfall Rettungsmed 2016)
  • Die alleinige Anlage einer Zervikalstütze reicht zur suffizienten Immobilisation der Halswirbelsäule (HWS) nicht aus. Daher muss, wenn eine Zervikalstütze bei V.a. HWS-Trauma angelegt wird, dann auch zusätzlich eine Vakuummatratze angewandt werden, außer bei sehr hohem Zeitdruck (z.B. instabilem Kreislauf). In diesem Fall erfolgt eine Minimal-Immobilisierung mit Zervikalstütze (Anmerkung: ggf. zusätzlich manuelle in-line Stabilisation durch eine Assistenzperson).
  • Bei Verdacht auf ein schweres Schädelhirntrauma (SHT) sollte eine Ruhigstellung der HWS ohne Zervikalstütze z.B. in der Vakuummatratze mit Kopffixierung erwogen werden (Argumentationsgrund sei der Anstieg des Hirndrucks durch das Anlegen der Zervikalstütze).
    • wie immer beim Thema Wirbelsäulen-Immobilisation spielt auch hier die klinische Erfahrung und Ausbildung des behandelnden Teams eine ganz entscheidende Rolle. Es muss beurteilt werden, welche Verletzung führend ist (HWS-Trauma oder SHT ?) und wie schwer das SHT ist. Die Hirndrucksteigerung durch das Anlegen der Zervikalstütze spielt nur bei schwerem SHT mit bereits vorliegendem erhöhtem intracraniellen Druck eine klinische Rolle. Dies ist prähospital (wenn noch keine klaren Hirndruckzeichen vorliegen) schwer zu beurteilen. Daher müssen hierfür Patientenfaktoren (Einnahme von Antikoagulanzien, Osteoporose, Bewusstseinslage, Erbrechen, Krampfanfall etc.) und der Unfallmechanismus (Krafteinwirkung, Kinematik etc.) beurteilt werden. Beispielsweise dürfte beim geriatrischen Patienten, der nach einem Stolpersturz zwar eine Kopfplatzwunde hat, aber bei klarem Bewusstsein ist, eher die Schwere des HWS-Traumas überwiegen.
  • Im Hinblick auf die Qualität der Immobilisation und die Inzidenz von Lagerungsschäden ist die Vakuummatratze gegenüber dem Spineboard zu bevorzugen.

Weitere Literatur:

  • Oberholzer N et al.: Factors Influencing Quality of Pain Management in a Physician Staffed Helicopter Emergency Medical Service. Anesth Analg 2017, online first.
  • Kreinest et al.: Untersuchung der Anwendbarkeit eines neuen Protokolls zur Immobilisation der Wirbelsäule. Indikationsstellung anhand des E.M.S. IMMO Protocol für erwachsene Traumapatienten. Notfall Rettungsmed 2016

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