Prähospitale arterielle Blutdruckmessung – ein Gamechanger in der Behandlung von Patienten mit akuter zerebraler Problematik?

Ein Gastbeitrag von Ferdinand Maier, Ulm        Mehr als 12 Millionen Menschen erleiden jährlich einen Schlaganfall. Das Krankheitsbild ist weiterhin für 6,5 Millionen Todesfälle verantwortlich. Eine adäquate prähospitale Versorgung dieser Patienten scheint somit von großer Bedeutung zu sein, wie die Sicherstellung stabiler kardiorespiratorischer Verhältnisse und ein zügiger Transport in das nächstgeeignete Krankenhaus mit Stroke-Unit.

Eine Bewusstseinsminderung kann sowohl ischämisch als auch hämorrhagisch bedingt sein und Störungen des Gasaustausches verursachen, denen mit einer geeigneten invasiven Beatmung entgegengewirkt werden kann. Dies führt konsekutiv in eine Atemwegssicherung mit endotrachealer Intubation. Die Einleitung einer Notfallnarkose kann jedoch mit starken hämodynamischen Störungen verbunden sein. Hypo- und sowohl Hypertonien sollten vermieden werden. Aus diesem Grund würde sich eine invasive Blutdruckmessung, so wie sie bereits innerklinisch standardmäßig bei diesen Patienten zur Anwendung kommt, am besten anbieten.

Kommt es zu einer akuten traumatischen Hirnverletzung (traumatic brain injury = TBI) oder einer spontanen intrakraniellen Blutung (sICB), so sollten anhand neuroprotektiver Maßnahmen sekundäre Hirnverletzungen vorgebeugt werden. Die hämodynamische Optimierung ist dabei ein wichtiger Aspekt, da bei einer TBI die zerebrale Autoregulation bei 49–87 % dieser Patienten nicht vorhanden oder beeinträchtigt ist. Die Aufrechterhaltung eines angemessenen mittleren arteriellen Drucks (MAP) ist aber entscheidend, um einen ausreichenden zerebralen Blutfluss (CBF) zu erhalten und somit sekundäre Hirnverletzungen zu verhindern.

Die nicht-invasive Blutdruckmessung (NIBP) ist jedoch, gerade während eines Transportes, störanfällig. Bewegungs- und Vibrationsartefakte können dazu führen, dass Blutdruckwerte über- oder unterschätzt werden und somit Therapien nicht angemessen durchgeführt werden können. Studien haben bereits gezeigt, dass eine invasive Blutdruckmessung (IBP) im prähospitalen Bereich durchführbar ist und diese eine höhere Genauigkeit als eine NIBP aufweist.

Gründe gegen eine Etablierung einer IBP im prähospitalen Bereich sind die erforderliche Ausrüstung und Ausbildung der Anwender sowie die dafür benötigte Zeit.

Vorteile einer IBP:

  • serielle Blutgasanalysen und dadurch eine Beatmungskontrolle
  • bessere Steuerbarkeit von Vasopressoren und der eingesetzten Narkotika
  • Analyse der arteriellen Wellenform

Um weitere Fragen in diesem Rahmen zu klären, führten Griggs et al. eine retrospektive klinische Diagnosegenauigkeitsstudie zur Ermittlung der Genauigkeit und klinischen Relevanz des IBP gesteuerten hämodynamischen Monitorings bei Patienten mit TBI oder sICB durch:

Griggs JE, Clarke S, Greenhalgh R, Watts AN, Barrett J, Houghton Budd S, Dias M, Hunter K, Lyon RM, Ter Avest E. Air Ambulance Charity Kent Surrey Sussex.

Diagnostic accuracy of pre-hospital invasive arterial blood pressure monitoring for haemodynamic management in traumatic brain injury and spontaneous intracranial haemorrhage.

Scand J Trauma Resusc Emerg Med 6; 33: 89 (2025)

Zwei wesentliche Fragen haben sich die Autoren vorab gestellt:

  1. Wie hoch ist der Grad der Ungenauigkeit bei NIBP im Vergleich zur IBP?
  2. Führen Messunterschiede zu klinisch relevanten Vorteilen für die hämodynamische Optimierung?

Um herauszufinden, ob es tatsächlich zu Verzögerungen bei der Diagnostik und Behandlung von Patienten kommt, die präkhospital eine IBP erhielten, im Vergleich zu Patienten, bei denen diese Maßnahme erst im Krankenhaus durchgeführt wird, führten Eichlseder et al. eine retrospektive, single-center Studie durch:

Eichlseder M, Schreiber N, Pichler A, Eichinger M, Labenbacher S, Hallmann B, Orlob S, Zajic P, Fandler-Höfler S.

Association of prehospital invasive blood pressure measurement and treatment times of intubated patients with suspected stroke – a retrospective study.

Scand J Trauma Resusc Emerg Med 16; 33: 90(2025)

Beide Studien werden nachfolegnd dargestellt:

Griggs et al.

Methoden

  • Patientendaten zwischen Januar 2022 und Januar 2024 des Hubschrauber Rettungsdienstes (HEMS) in Südostengland
  • die Notärzte haben mind. 5 Jahre Berufserfahrung, davon mind. 6 Monate in Anästhesie. Die Paramedics sind in invasiver Überwachung geschult
  • NIBP Messung mit passender Manschettengröße kontralateral am Oberarm zur IBP Messung
  • Datenerfassung in 3 Minuten Intervallen für NIBP und 1 Minuten Intervallen für IBP (Wellenform der IBP in Echtzeit auf dem Monitor sichtbar)
  • Der primäre Endpunkt war der Prozentsatz der gleichzeitigen Blutdruckmessungen, die eine paarweise Übereinstimmung zwischen IBP und NIBP zeigten, definiert als eine Differenz von <10 mmHg (mittlerer arterielle Druck = MAP) oder <20 mmHg (systolischer Blutdruck = SBP und diastolischer Blutdruck = DBP)
  • Gleichzeitige Datenpaare beziehen sich auf eine invasive und eine nicht-invasive Messung, die innerhalb eines Zeitraums von einer Minute bei demselben Patienten in der elektronischen Patientenakte aufgezeichnet wurden
  • Unterschiede zwischen NIBP und IBP wurden in fünf Risikostufen eingeteilt, die von Kategorie A (kein Risiko, kein Unterschied in der klinischen Vorgehensweise) bis E (gefährliches Risiko, unnötige (fehlende) Behandlung mit schwerwiegenden lebensbedrohlichen Folgen) reichen

Einschlusskriterien:

  • Patientenalter mind. 18 Jahre
  • Verdacht auf TBI oder sICB
  • erfolgreiche Etablierung einer arteriellen Kanüle, um ICB und NIBP messen zu können
  • ausschließlich präklinische Patienten, keine Verlegungen

Ergebnisse

  • 209 Patienten mit insgesamt 1020 IBP-NIBP-Datenpaare zum Vergleich wurden eingeschlossen (die mittlere Anzahl der Messungen pro Patient betrug 9 (IQR 3–15, Bereich: 1–29)
  • davon 159 Patienten mit TBI (827 Datenpaare) und 50 Patienten mit sICB (193 Datenpaare)
  • die meisten Patienten waren männlich (185/209, 80%)
  • das mittlere Alter betrug 51 (41-68) Jahre
  • die arterielle Kanülierung wurde in 80% im ersten Versuch etabliert
  • die A. radialis wurde in 73% punktiert, gefolgt von der A. femoralis (4%) und A. brachialis (2%). In 21% fehlen die Daten dazu
  • mittlerer GCS von 6 (4-8)
  • 198/209 Patienten wurden intubiert (95%), davon erhielten 153/198 Patienten (77%) vor der Einleitung einen arteriellen Zugang zur Messung des IBP, 73 Patienten erhielten Vasopressoren

NIBP vs. IBP:

  • NIBP überschätzte den MAP bei hypotensiven Patienten und unterschätzte diesen bei hypertensiven Patienten
  • der durchschnittliche (95 % Konfidenzintervall) Unterschied im MAP betrug -1,4 mmHg (-3,09 bis 0,27)
  • bei Patienten mit TBI betrug die mittlere Differenz des MAP (unter Berücksichtigung der Richtung der Differenz) zwischen IBP und NIBP 2,5 mmHg (Übereinstimmungsgrenzen −49,3 bis 54,4 mmHg)
  • bei Patienten mit sICB betrug die mittlere Differenz des MAP zwischen IBP und NIBP −3,5 mmHg (Übereinstimmungsgrenzen 56,4 bis 63,4 mmHg)
  • in 6% (95 % KI: 4,4–7,7) der gepaarten Messungen bei TBI unterschied sich der NIBP vom IBP mit hoher klinischer Relevanz (moderates bis gefährliches Risiko, Kategorien C–E)
  • in 13% (95 % KI: 7,8–17,2) der gepaarten Messungen bei sICB unterschied sich der NIBP vom IBP mit hoher klinischer Relevanz (moderates bis gefährliches Risiko, Kategorien C–E)
  • der kumulative Prozentsatz der MAP Messungen, die in die Kategorien mit geringem Risiko (A–B) fielen, betrug 88% (95 % KI: 82,8–92,2)
  • paarweise Übereinstimmung zwischen IBP und NIBP: <10 % Differenz für MAP in 57% und <20 % für SBP in 77% und DBP in 66%

Eichlseder et al.

Methoden

  • Einschlusskriterien: Erwachsene Patienten (mind. 18 Jahre) mit vermutetem Schlaganfall zwischen Januar 2018 und Dezember 2023, die in das Universitätsklinikum Graz eingeliefert wurden
  • Einteilung in zwei Gruppen: mit und ohne präklinischer invasiver Blutdruckmessung
  • der primäre Endpunkt war das Zeitintervall zwischen der Ankunft des Notarztes am Einsatzort und der ersten cranialen Computertomographie (CCT) im Klinikum
  • sekundäre Endpunkte waren die Zeit zwischen der Ankunft des Notarztes am Einsatzort und der Übergabe im Schockraum, die Verweildauer des Notarztes am Einsatzort, die Transportdauer und die Zeit zwischen der Übergabe im Schockraum und der ersten CCT
  • zusätzlich wurde der systolische und diastolische Blutdruck bei Ankunft im Schockraum mit in die Auswertung aufgenommen
  • um eine randomisierte Struktur nachzuahmen, wurde ein Propensity-Score-Matching durchgeführt

Ergebnisse

  • 100 Patienten wurden eingeschlossen, davon erhielten 67 Patienten präklinisch eine IBP und 33 Patienten im Schockraum
  • alle 100 Patienten wurden präklinisch intubiert
  • 57% waren männlich
  • das mittlere Alter betrug 72 (61-80) Jahre
  • mittels Matching ergaben sich in den beiden Gruppen jeweils 33 Patienten

In den gematchten Kohorten …

  • … gab es keinen Unterschied in der medianen Zeit zwischen der Ankunft am Unfallort und der ersten CCT in der präklinischen und klinischen Gruppe (79 (77–87) Minuten vs. 73 (67–81) Minuten, p = 0,21
  • war die Zeit am Unfallort in der präklinischen Gruppe signifikant verlängert 45 (37–51) vs. 36 (33–43) Minuten, p = 0,009
  • … unterschieden sich zwischen präklinischer und klinischer Gruppe die Zeiten vom Eintreffen am Unfallort bis zur Übergabe (65 (52–73) vs. 56 (51–65) Minuten, p = 0,08), die Transportdauer (18 (11–25) vs. 20 (13–31) Minuten, p = 0,20) und die Schockraumbehandlung (16 (12–20) vs. 16 (11–21) Minuten, p = 0,39) nicht signifikant
  • … wurden bei der Ankunft im Schockraum keine Unterschiede zwischen systolischem (127 (109–150) vs. 130 (110–160) mmHg, p = 0,99) und diastolischem Blutdruck (80 (60–90) vs. 80 (65–90) mmHg, p = 0,57) zwischen den beiden Gruppen festgestellt

Diskussion

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass bei der Verwendung von NIBP zur Steuerung der prähospitalen Hämodynamik bei Patienten mit TBI oder sICB bei einem erheblichen Anteil der Patienten klinisch relevante Messungenauigkeiten beobachtet wurden, insbesondere bei Hypo- oder Hypertonie. Die Autoren gehen davon aus, dass die prähospitale invasive Blutdrucküberwachung das Potenzial hat, eine frühzeitige hämodynamische Optimierung zu erreichen, insbesondere bei extremen Blutdruckwerten.

Wie in früheren (krankenhausinternen) Studien war der Gesamtunterschied im durchschnittlichen MAP zwischen invasiven und nicht-invasiven Messungen in dieser Studie gering (-1,4 mmHg). Das individuelle Risiko der Patienten lässt sich jedoch anhand dieser Zahl nicht gut ausdrücken, da der Prozentsatz der Patienten, die die Kriterien für eine paarweise Diskrepanz zwischen NIBP und IBP erfüllten, beträchtlich war (43% der MAP-Werte, 23% der SBP-Werte und 34% der DBP-Werte), was eine erhebliche Variation und das Potenzial für eine Über- oder Unterbehandlung bei einem großen Anteil der Patienten bietet.

Obwohl Behandlungsentscheidungen in der Regel auf der Grundlage physiologischer Trends und nicht aufgrund einzelner Messungen getroffen werden, deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die nicht-invasive Überwachung zu jedem Zeitpunkt die therapeutische Entscheidungsfindung bei einem großen Teil der Patienten verändern und damit die Wirksamkeit der präklinischen neuroprotektiven Versorgung beeinträchtigen kann.

Insbesondere bei längeren Transportzeiten kann eine prähospitale IBP zur Aufrechterhaltung der hämodynamischen Optimierung beitragen.

Bei Patienten mit Verdacht auf Schlaganfall, die prähospital intubiert wurden und eine IBP erhielten, war die Zeit vom Eintreffen am Unfallort bis zur ersten CCT, im Vergleich zu denjenigen Patienten, bei denen prähospital keine IBP etabliert wurde, nicht signifikant verlängert.

In einer Studie von Wildner et al. benötigte man für die präklinische arterielle Kanülierung im Median zwei Minuten und die Vorbereitung der invasiven Messung, die in der Regel gleichzeitig durchgeführt wurde, betrug im Median drei Minuten.

Die Frage bleibt, ob die prähospitale Etablierung einer IBP mit der damit verbundenen längeren Einsatzdauer einen ausreichenden klinischen Nutzen bietet, um ihren Einsatz zu rechtfertigen. Um diese Frage vollständig zu beantworten, sind weitere große prospektive randomisierte Studien erforderlich.

Die folgenden Aspekte könnten jedoch dafür sprechen: In der Studie von Fouche et al. war eine längere Einsatzdauer mit einer höheren Überlebenswahrscheinlichkeit bei Patienten mit hämorrhagischem Schlaganfall und Notfallnarkose verbunden. Im Gegensatz dazu sank aber die Überlebenswahrscheinlichkeit bei Patienten mit traumatischer Hirnverletzung mit längerer Einsatzdauer. Ein Zusammenhang zwischen verlängerter Einsatzdauer und verbesserter Überlebensrate scheint im Allgemeinen nicht plausibel, und die Studie weist ein hohes Verzerrungspotenzial auf. Das könnte jedoch darauf hindeuten, dass bei Patienten mit Schlaganfall und Notfallnarkose trotz einer Verlängerung der Einsatzdauer noch Spielraum und Zeit für zusätzliche fortgeschrittene prähospitale Interventionen vorhanden sind, die einen Nutzen bieten könnten.

Interessanterweise wurde in der vorliegenden Studie von Eichlseder et al. kein Unterschied des Blutdrucks bei Ankunft im Schockraum zwischen den beiden Gruppen festgestellt. Erklärbar wäre dies dadurch, dass die Blutdruckmessung auf einen einzigen Zeitpunkt während der Übergabe beschränkt war. Zum diesem Zeitpunkt können Situationen mit einem hohen Risiko für hämodynamische Störungen, wie z. B. die Narkoseeinleitung, bereits vorüber und therapiert worden sein und ein stabiler Zustand konnte wieder hergestellt werden (Gabe von Vasopressoren, zunzureichende Narkosetiefe). Eichlseder et al. sowie Griggs et al. geben an, dass der NIBP auch die Häufigkeit einer Hypotonie unterschätzen könnte.

Zusammenfassung

  • Mehrere Studien, die invasive mit nicht-invasiven Blutdruckwerten verglichen haben, zeigten, dass die nicht-invasiv gemessenen Werte bei hämodynamischer Instabilität häufig ungenau sind. Gerade in den Leitlinien zum hämorrhagischen Schlaganfall wird bei diesen Patienten eine engmaschige Blutdrucküberwachung mit eng eingestellten Grenzwerten empfohlen

  • NIBP überschätzt den MAP bei Hypotonie und unterschätzt diesen bei Hypertonie

  • Durch Einsatz einer prähospitalen invasiven Blutdrucküberwachung kann eine frühzeitige hämodynamische Optimierung erreicht werden, insbesondere bei Hypo- oder Hypertonie

  • Die IBP kann zur Neuroprotektion in der hyperakuten Phase beitragen

  • Die Etablierung einer IBP im prähospitalen Bereich verlängert die Einsatzzeit nicht signifikant

 

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