Lawinenunfall – reanimieren oder nicht? Ein pragmatischer Ansatz

Ein Blogbeitrag von PD Dr. Jürgen Knapp, Schweiz:  

Mal wieder eine Arbeit von den eigenen Kollegen:

Venetz P, Luedi MM: EDCB ET AA: A Mnemonic for Resuscitating Hypothermic Patients Under Extreme Conditions. Anesth Analg 2022. DOI: 10.1213/ANE.0000000000005883

Der Artikel ist kostenlos („open access“) unter folgendem Link abrufbar:
https://journals.lww.com/anesthesia-analgesia/Fulltext/2022/06000/EDCB_ET_AA__A_Mnemonic_for_Resuscitating.28.aspx

Lawinenunfälle sind oft dramatisch sowie rettungstechnisch, medizinisch und logistisch anspruchsvoll. Insbesondere die ersten Minuten sind unübersichtlich und es muss die wichtigste Frage extrem schnell entschieden werden: Wer wird reanimiert und ggf. unter laufender Reanimation ins ECLS-Zentrum transportiert und bei welchem Patienten ist eine Reanimation sinnlos? Das Ganze unter extrem unübersichtlichen Bedingungen und in der Regel ungünstigen Wetterbedingungen, da die wenigsten Lawinenunfälle bei Sonnenschein und Windstille passieren. Dazu kommt: die Entscheidung, keine Reanimation zu starten oder sie frühzeitig abzubrechen ist eine irreversible, muss vom ersteintreffenden HEMS-Team allein und ohne Rücksprache gefällt werden und kann im Nachhinein für das Team daher extrem belastend sein: „Hätte es vielleicht doch eine Chance für den Patienten gegeben?“ „Glaubst Du, es war richtig, nicht zu reanimieren?“ „Hätten wir nicht doch einfach unter Reanimation ins Zentrum fliegen sollen?“ Das sind die Fragen, die sich die meisten, die mit Lawinenunfällen zu tun hatten, schon gestellt haben.

Die internationale Kommission für Bergrettung (International Commission for Alpine Rescue, ICAR) hat für diese Situation zwar einen Algorithmus entwickelt, dieser ist aber komplex und bedarf intensiver Übung, da der einzelne HEMS-Crewmember sehr selten mit Lawinenunfällen mit Verschütteten konfrontiert wird. Zudem ist er auf die Verhältnisse in der Schweiz, Deutschland oder Österreich nicht gut übertragbar: Die Flugzeiten in ein ECLS-Zentrum sind in der Regel mit den zur Verfügung stehenden Rettungsmitteln kein Problem, Rettungshelikopter sind meist in kürzester Zeit in ausreichender Zahl verfügbar, das Messen des Serum-Kalium-Werts prähospital unmöglich und der „Zwischenstopp“ in einem näher gelegenen Spital zur Messung dieses Werts völlig unpraktikabel. Ein weiterer „Knackpunkt“ im ICAR-Algorithmus ist die sehr frühe Einbeziehung der Körperkerntemperatur. Diese ist aber beim Lawinenopfer nur über eine ösophageale Sonde zu messen, da der äußere Gehörgang üblicherweise Schnee- oder Schmelzwasser gefüllt ist.

Die Kollegen Philipp Venetz und Markus Lüdi schlagen daher für die ersten Minuten nach Eintreffen bei einem Lawinenopfer einen deutlich einfacheren und pragmatischeren Ansatz vor. Griffig und leicht zu merken nutzen sie als Gedächtnisstütze das bekannte „ABC“ der Notfallmedizin in umgekehrter Reihenfolge mit einem „und“ dazwischen: EDCB ET AA

Er ist einfach abzuarbeiten, auch ohne Merkzettel gut zu memorieren, verzichtet auf die Einbeziehung des Kaliumwerts und die Frage nach der Körperkerntemperatur tritt etwas in den Hintergrund hinsichtlich des Abbruchs der Reanimationsmaßnahmen. Zudem stellen die beiden erfahrenen Kollegen korrekterweise fest: „Once resuscitation is started, the patient benefits from timely and quick referral to a trauma center with the possibility of extracorporeal life support (ECLS) such as extracorporeal membrane oxygenation (ECMO) or cardiopulmonary bypass (CPB) for rewarming and reestablishing physiology.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.