Thiamin (Vitamin B1) in der Notfallmedizin

Professor Karl-Peter Ittner ist klinischer Pharmakologie, Anästhesist und Notarzt. Er berichtet seit Jahren leidenschaftlich von Thiamin in der Notfallmedizin. Immer wieder gibt es sehr lesenswerte Artikel von ihm zu diesem Thema. Anbei einmal eine aktuelle Arbeit zu Thiamin von ihm kurz zusammengefasst:

Ittner KP. Die Bedeutung von Thiamin (Vitamin B1) in der Notfallmedizin. Notarzt 2020; 36: 253-256

Vitamin B1 (Thiamin):

  • essenzielles wasserlösliches Vitamin
  • Biokatalysator für die aeroben ATP-Gewinnung im Citratzyklus
  • Aufnahme von Vitamin B1 erfolgt im Jejunum
  • Aktivierung in Darm oder Leber durch Thiaminkinase zu Thiaminpyrophosphat (TPP)
  • TPP unterstützt in Körperzellen die Bildung von Adenosintriphosphat (ATP), reibungslose Citratzyklus-Biochemie zur ATP-Regeneration ist lebenswichtig
  • Tagesbedarf an Thiamin: 1,2 mg, die Speichermöglichkeiten sind begrenzt, Halbwertszeit beträgt rund 2 Wochen

Ursachen eines chronischem Thiaminmangel sind Ernährungsstörung infolge von

  • Alkoholabusus
  • chronische Gastritis
  • chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen [z. B. Morbus Crohn]
  • langanhaltendes Erbrechen [z. B. Chemotherapie oder nach adipositaschirurgischen Eingriffen]
  • Anorexie
  • Drogenabusus, u.a.

Mangel an Thiamin hat als Konsequenz:

  • diffuse Minderung der Glukoseverstoffwechslung sowie mitochondriale Schädigung und intrazelluläre Azidose
  • Anreicherung von Glutamat und durch Energiemangel kommt es zur exzitatorischen Zellschädigung
  • Umstellung auf anaerob Energiegewinnung mit konsekutiver intrazelluläre Azidose
  • im Gehirn kommt es zu irreversiblen Schäden („Wernicke-Enzephalopathie“: Gedächtnisverlust und einer konfabulatorischen Psychose):
    • periventrikuläre Läsionen in Dienzephalon, Mittelhirn und Hirnstamm
    • Trias:
      • horizontalem Nystagmus/Ophthalmoplegie (durch Schwäche extraokulärer Muskeln),
      • zerebellärer Ataxie und
      • Enzephalopathie (unspezifische geistige Beeinträchtigung wie Bewusstseinsstörungen, Bewegungsstörungen, Gedächtnisverlust, Psychose, Konfusion und Konfabulationen, Desorientierung)
Wernicke-Enzephalopathie = ein medizinischer Notfall:
  • Kernbotschaft: „Alle Patienten mit unklarer Bewusstseinsstörung sollten intravenös Thiamin erhalten.“
  • Dosisangabe bei akutem Thiaminmangel mit kardiovaskulären oder neurologischen Symptomen: Thiamin 3 × 200 mg/d i.v., andere Quellen empfehlen 500 mg i. v. über 30 min 3 × täglich über 2 Tage
  • bei Hypoglykämie mit unklarer Bewusstseinsstörung keine Glukosegabe ohne vorherige i.v. Thiamingabe, denn bekommt ein Patient mit Thiaminmangel bei einer Hypoglykämie Glukose i.v. , triggert man iatrogen eine Enzephalopathie, weil die Glukose nicht im Citratzyklus biochemisch verarbeitet werden kann
  • unbehandelt geht eine Wernicke-Enzephalopathie in ein irreversibles Wernicke-Korsakow-Syndrom über (lebenslanger Pflegefall)
Status epilepticus:
  • zur Differenzialdiagnostik eines prolongierten Grand-Mal-Status gehört u.a. der Ausschluss einer  Hypoglykämie durch eine Blutzuckermessung
  • bei Hypoglykämie infolge einer Ernährungsstörung durch ein(e) Alkoholerkrankung/ Alkoholentzugsdelir: Bolus von 50 %iger Glukoselösung plus 100 mg Thiamin i.v.
  • falls nötig, erfolgt danach im 2. Schritt die eigentliche antiepileptische Pharmako- therapie.

Delir:

  • Differenzialdiagnose des Delirs:  Intoxikationen, Arzneimittelüberdosierung, Stoffwechselerkrankungen, Infektionen, endokrine Erkrankungen, ZNS-Erkrankungen bis hin zu Autoimmunerkrankungen.
  • auch Ernährungsstörungen mit schwerem Thiaminmangel können v.a. bei Medikamentenmissbrauch (z.B. Benzodiazepine, Opioide, Amphetamine) und Alkoholabusus die Ursache sein
  • Delir mit Tremor: klinische Leitsymptom einer Wernicke-Enzephalopathie durch Alkohol (Delirium tremens)
  • Empfehlung: Thiaminsubstitution bei allen stationär aufzunehmende Patienten
  • bei Delir mit Hypoglykämie: Bolus von 50 %iger Glukoselösung plus 100 mg Thiamin i.v.

Unklares Koma:

  • Therapiealgorithmus
    • „ABCDE-SChema“:
      • A/B: bei GCS ≤ 8 Atemwegssicherung
      • C: bei Hypotension, Infusion/Katecholamine
      • D: bei Hypoglkämie: 50 ml Bolus von 50 %iger Glukoselösung plus 100 mg Thiamin i.v.
      • D: bei V. a. Intoxikation mit Opioiden/Benzodiazepine: Naloxon/Flumazenil
      • D: bei zerebralen Einklemmungszeichen: Mannitol
      • D: Erkenne und behandle konvulsive und nicht konvulsiven Krampfanfälle
      • E: bei Hyperthermie: Therapieziel <39°C
      • E: bei Hypothermie <33 °C: Erwärmung
      • E: bei Meningitisverdacht: Antibiose

Chronischer Herzinsuffizienz

  • bei einer therapierefraktären alkoholtoxischen Kardiomyopathie: Thiamin 100–500 mg i. v
  • schwerer Thiamin- oder Selenmangel kann zu einer reversiblen Herzinsuffizienz führen
  • bei Herzinsuffizienz kann eine Mangelernährung bestehen und gleichzeitig die Einnahme von High-Ceiling-Diuretika (z.B. Furosemid) wesentliche Risikofaktoren für einen Thiaminmangel sein
  • bisher nur für die chronische Herzinsuffizienz und nicht für die akute dekompensierte Herzinsuffizienz, daher kann derzeit keine klare Empfehlung zur routinemäßigen Applikation von Thiamin oder zur Erhebung des Thiaminstatus erfolgen

Nebenwirkungen einer intramuskulären/ intravenösen Thiamingabe

  • Nebenwirkung: Anaphylaxie durch Thiamin extrem selten
  • Häufigkeit (UK):
    • 4 Fälle/ 5 Mio. i.m.-Gaben
    • 1 Fall/1 Mio. i.v.-Gaben

Beachten Sie bitte auch folgende Post:

Thiamin in der Notfallmedizin?

Wernicke Encephalopathie

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