Neues Positionspapier zur Anaphylaxie

zungenschwellungDie Therapie von allergischen Reaktionen und Anaphylaxien gehören zum Grundrepertoire eines jeden Notfallmediziners. Um so wichtig, sich regelmässig mit diesem wichtigen Thema auseinanderzusetzen. Die World Allergy Organization hat 2015 ein Update und Positionspapier zur Therapie der Anaphylxie publiziert:

Simons FER, et al. 2015 update of the evidence base: World Allergy Organization anaphylaxis guidelines. World Allergy Organization Journal 2015; DOI 10.1186/s40413-015-0080-1 (PDF)

Ergänzend sind natürlich auch die Empfehlungen des European Resuscitation Council und des German Resuscitation Council zu beachten:

Truhlar A, et al. Kreislaufstillstand in besonderen Situationen. Kapitel 4 der Leitlinien zur Reanimation 2015 des European Resuscitation Council. Notfall Rettungsmed 2015; 18: 833-903


Hier ein paar interessante Informationen aus diesen Literaturstellen:

Definition:

  • Anaphylxie ist eine schwere, lebensbedrohliche, generalisierte oder systemische Reaktion. Diese ist charakterisiert durch rasch auftretende Störungen des Luftwegs und/oder der Atmung und/oder des Kreislaufs, welche meist begleitet werden durch Veränderungen an Haut und Schleimhäuten [Anmerkungen: in 10-20% der Fälle keine Hautveränderungen]

Epidemiologie:

  • Lebensrisiko für das Auftreten von Hypersensitivitätsreaktionen: 0,05-1,6% bis 1:300
  • deutlich Zunahme der Krankenhausaufnahmerate bei Anaphylaxie in den letzten 20 Jahren, Mortalitätsrate liegt bei 0,63-0,76/1.000.000 Einwohner/Jahr (Letalität <1%)
  • häufigste Auslöser: Nahrungsmittel (zB Nüsse), Medikamente (zB NSAR, Antibiotika, Muskelrelaxantien, Kontrastmittel), Insektenstiche, Latex, unklare Ursache (idiopathische Anaphylaxie), u.a. (welche die führende Rolle einnimmt, schwankt von Untersuchung zu Untersuchung)
  • Risikofaktor ß-Blocker und ACE-Hemmer: bei Patienten, die diese Medikamente nehmen, fallen anaphylaktische Reaktionen gravierender aus
  • weitere Risikofaktoren für einen schweren Verlauf: höheres Lebensalter in Kombination mit kardiovaskuläre Erkrankungen und COPD, Asthma
  • Herzkreislaufstillstand tritt nach Nahrungsmitteln häufig binnen 30 min, nach Insektenstichen binnen 10-15 min und nach i.v.-Medikamenten nach 5 min auf, cave: 50% aller Todesfälle einer Anaphylaxie treten binnen 1 h nach Symptombeginn auf, bei >6h nach Kontakt zum Agens wurden keine Todesfälle mehr berichtet
  • IgE (Hypersensitivitätsreaktion Typ 1 nach Coombs/Gell) und Nicht-IgE vermittelte Reaktionen des Körpers

Typische Symptomatik:

  • rascher Beginn (innerhalb von Minuten) nach Kontakt zum Agens mit Beteiligung von Haut (Uriikaria, Flush, Pruitus), Schleimhäuten und einem der folgenden Symptomen:
    • Atemproblemen (zB Dyspnoe, Giemen, Spastik, Stridor, Schwellungen)
    • Blutdruckabfall/Hypotension (bei Erwachsenen RR systolisch <90 mmHg oder Abfall von > 30% vom Ausgangswert)
    • gastrointestinale Beschwerden (zB krampfartige Bauchschmerzen, Erbrechen)
    • cave: nicht immer ist das Erkennen einer Anaphylaxie einfach, Differentialdiagnosen: Hypoperfusion, Hypovolämie, endotoxische/ hämorrhagische/ kardiogene/ vasovagale Reaktionen (besonders schwierig, wenn Pruitus, Urticaria und Flush fehlen, in 10-20% d. Fälle).

Initialtherapie:

  • ABCDE-Schema
  • Monitoring: Pulsoxymetrie, nicht-inasvive Blutdruckmessung, 3-Kanal-EKG, Atemfrequenz
  • zwei großlumige periphervenöse Gefäßzugange
  • Lagerung: Oberhörperhochlagerung bei Atemnot, Flachlagerung bei Hypotension
  • Entfernen des Agens/Triggers (zB Entfernen des Stachels bei Wespen- oder Bienenstich, Beendigung/Stop einer laufenden Infusion)
  • bei Eintreten eines Herzkreislaufstillstand: unmittelbare kardiopulmonale Reanimation
  • Atemwegsobstruktionen: cave: ggf. frühzeitige endotracheal Intubation wegen Schwellungsgefahr und dann drohendem Verlust des Atemwegs (Hinweise: Heiserkeit, Zungenschwellung, Stridor, oropharngeale Schwellung, ggf. fiberoptische Wachintubation erwägen)
  • Adrenalingabe im Fokus!

Adrenalintherapie (first-line):

  • alpha-und beta-Sympathomimetikum (führt zu Bronchodilatation und Vasokonstriktion)
  • wichtigstes Medikament zur Behandlung der Anaphylaxie, Applikation möglichst frühzeitig nach Kontakt mit dem Agens, denn die Gabe vor Ankunft in der Notaufnahme reduziert die Krankenhausaufnahmerate (berücksichtige: es gibt keine harten Kontraindikationen für Adrenalin bei der Anaphylxie)
  • aber keine randomisierten, kontrollierten Studien bisher, dennoch aus logischer Sicht und als erprobte Therapiemassnahme bei Bronchospasmus und Hypotension im Rahmen der Vasodilatation (Schock) indiziert
  • i.m. Gabe wird frühzeitig empfohlen: große therapeutische Breite, Anwendung auch ohne iv-Zugang möglich, einfach zu erlernen, ggf. Selbstmedikation über Autoinjektor, Lokalisationort: anterolaterale Seite des mittleren Drittels des Oberschenkels, ausreichende lange Injektionsnadel, Lösung (nicht-verdünnt 1 mg/ml, pure Injektionslösung 1:1000) mit 0,01 ml/kgKG bis zu 0,5 mg (beim Erwachsenen), Monitoring, ggf. Repetition (alle 5-10 min)
  • Dosierungsvorschläge i.m. Adrenalin (s. Literatur im Blog):
    • > 12 Jahre und Erwachsene 0,5 mg i.m. (0,5 ml),
    • > 6 bis 12 Jahre 0,3 mg i.m. (0,3 ml),
    • > 6 Monate bis 6 Jahre 0,15 mg i.m. (0,15 ml),
    • < 6 Monate 0,15 mg i.m. (0,15 ml)
  • i.v. Gabe wird nur durch erfahren Anwender empfohlen, cave: Fehldosierung mit Nebenwirkungen (zB Hypertonie, Tachykardien, Herzrhythmussörungen), Monitoring (EKG, RR, SpO2), Dosierung: Erwachsene (1 mg Adrenalin auf 100 ml NaCL 0,9% =10μg/ml): 50 μg-Boli i.v. nach Wirkung, ggf. Perfusor, beachte, wenn kein intravenöser Zugang möglich, dann intraossären Zugang in Betracht ziehen.
  • Komplikationen nach i.m.-Adreanalingabe: 1% vs. i.v.-Adrenalingabe: 10%
  • bei Kreislaufstillstand ergibt sich keine Änderung der Dosierung im Vergleich zur sonstigen Reanimationssituation, ggf. Herzlungenmaschiene/ECMO und automatische externe Reanimationshilfen

Sauerstoff:

  • Gesichtsmaske mit Reservoir mit höchstmöglicher Sauerstoffzufuhr

Volumentherapie:

  • Erwachsene: 500-1000 ml rasch infundiert (teils ist eine aggressive Volumentherapie notwendig)
  • Kinder: 20 ml/kgKG als Bolus i.v.
  • Art der Infusionslösung ist unklar, keine Evidenz, dass Kolloide besser als kristalline Lösungen

Ergänzende Therapie:

  • Antihistaminika (second-line): wenig Evidenz für H1/H2-Blocker, cave: Wirkeintritt erst nach 30-45 min [Anmerkung: Wir applizieren bei Erwachsenen 2 Amp H1-(zB Dimentindenmaleat)  und 2 Amp H2-Blocker (zB Ranitidin) langsam i.v., Reduktion der Rezeptorbindung von Histamin aus den Mastzellen, s. auch Singer E, et al. Emerg Med Pract 2015, Anm: Aufklärung über Fahruntüchtigkeit]
  • Glucocortidoide (second-line): wirken erst deutlich später (4-6 h nach Administration), diskutiert wird, ob Glucocorticoide langwierige Reaktionen verkürzen und biphasische Verlauf verhindern können, besonders wichtig bei Asthmatikern, Dosierung: 100 mg Prednisolon i.v.
  • Bronchodilatatoren: Salbutamol (ß2-Sympathomimetikum per Inhalationen oder i.v.), Ipratropium (inhalativ), Aminophyllin (i.v.), Magnesium (i.v., cave: kann Hypotension verstärken), ggf. auch Adrenalin Inhalation
  • „nicht vergessen“: klinische Untersuchung des Patienten [von „Locke bis Socke“, Fahndung nach Auslöser (zB Insektenstachel)]
  • Glucagon Rescue-Strategie: bei refraktärer Anaphylaxie und bei Patienten, die unter einer Dauermedikation mit ß-Blocker stehen und bei denen die first-line Adrenalingabe nicht effektiv war, Glucagon ist kurzwirksam, daher 1-2 mg alle 5 min i.v. beim Erwachsenen, Nebenwirkungen: Hyperglykämie, Übelkeit, Erbrechen (cave: Datenbasis sind lediglich Fallberichte)

Anaphylxie1


Weitere Abklärung:

  • bei Patienten aus dem Notarztdienst: Einweisung in die Zentrale Notaufnahme
  • 12-Kanal-EKG, Röntgenthorax [Anm.: Empfehlung der ERC-Leitlinie, kann man aber auch kritisch diskutieren, gerade bei jungen Patienten!], Laborabnahme (zB Mastzelltryptase, cave: 15-180 min nach Auftreten der Symptome, aber nicht bei allen Patienten) [Anm.: Labor wird kritisch diskutiert und teilweise wird in der Literatur auch darauf verzichtet, da kein Mehrwert], arterielle Blutgasanalyse
  • Patienten, bei denen eine Anaphylaxie vermutet wird, sollten in einer Klinik nachbeobachtet werden, cave: biphasische Verläufe (Aufklärung!, teils wird von einer Inzidenz von bis zu 20% berichtet), biphasischer Verlauf bedeutet, dass es ohne erneute Zufuhr des Agens binnen 24 h (häufigstes Auftreten in der Zeit bis zu 8-10 h) zu einer erneuten Auftreten der Symptomatik kommt, Überwachungszeitraum aber nicht klar definiert (bei Beschwerdefreiheit 4-6 h)
  • Aufnahmeindikation ICU: Schwellungen im Mund-Rachenbereich, Schockzustände
  • Aufnahmeindikation Normalstation: Patienten unter Dauertherapie mit ß-Blocker, Vorgeschichte mit Anaphylaxie, Asthma, Niereninsuffizienz, Herzinsuffizienz, u.a.
  • Patienten sollten vor Entlassung aus dem Krankenhaus von einem Allergologen gesehen werden, einen individuellen Behandlungsplan und klare Anweisungen erhalten, ein Notfallset rezeptiert bekommen und eine entsprechende Anleitung zur Anwendung erhalten haben, ggf. müssen Vermeidungsstrategien dem auslösenden Agens gegenüber erläutert werden.

Weiterführende Literatur:

  • Ring J, et al. S2 Leitlinie zu Akuttherapie und Management der Anaphylaxie. Allergo J Int 2014; 23: 96 (PDF)
  • Singer E, et al. Allergy and Anaphylaxis: Principles of acute emergency management. Emery Med Pract 2015; 17: 1-24

Foto: mit freundlicher Genehmigung von M. Helm.

4 thoughts on “Neues Positionspapier zur Anaphylaxie

  1. Vielen Dank für den Beitrag. Eine Frage aus der Praxis:
    Was muss ich unter „Überwachung“ für 24h verstehen? Reicht stationäre Aufnahme bei aktuell beschwerdesrmen Patienten? Kann ich Patienten (analog zum leichten SHT) auch unter Begleitung und Aufklärung einer weiteren Person entlassen oder muss es Überwachung auf IMC /IAS sein?

    1. Lieber Martin, eine sehr gute Frage: Zum Überwachungsmanagement hatte ich seinerzeit bei der Diskussion unserer SOP Anaphylaxie folgendes gefunden: In der deutschen S2 Leitlinie (Ring J et al. Allergo J Int 2014; 23: 96) heißt es hierzu, dass eine Überwachung bis zur sicheren und anhaltenden Remission der Anaphylaxie indiziert und die Möglichkeit eines biphasischen Verlaufs zu berücksichtigen ist. Biphasische Verläufe treten dabei überlicherweise <10 h auf. Bei allen ausgeprägten schweren Reaktionen (≥Grad II) ist eine stationäre Überwachung indiziert. Bei Anaphylaxien mit bedrohlicher Allgemeinreaktion ist eine intensivmedizinische Überwachung sinnvoll.
      Nach Singer et al. (Emerg Med Pract 2015; 17: 1-24) sollte eine kontinuierliche Pulsoxymetrie, Blutdruckmessung und EKG zum Monitoring genutzt werden. Dabei sollte die „Überwachungszeit“ individuell am Patienten ausgerichtet werden, d.h. je nachdem wie schwer der Patient reagiert und wie gut er auf die Therapie angesprochen hat. Für Patienten ohne Hochrisikokonstellationen (s.o.), deren Akutreaktion nach Therapie komplett reversibel war, wird ein Überwachungszeitraum von 4-6 h empfohlen (dies sicherlich dann unter Monitoring in der Notaufnahme oder einer Notaufnahmestation). Patienten mit Hochrisikokonstellationen (s.o.) sollten 24 h überwacht werden. In Leipzig arbeiten wir hier sehr gut mit unseren exzellenten dermatologischen Kollegen zusammen, die die og stationäre Überwachung, Aufklärung, Anbindung und Rezeptierung eines Notfallsets übernehmen. Die Aufnahme auf eine Intensivstation wird durch Schwellungen im Mund-Rachenraum und/oder Schockzustände getriggert. Herzlichen Gruß, Dein Michael

  2. Sehr interessante Zusammenfassung. Allerdings sollte die URL nochmal überprüft werden; es hat sich an einer dafür geradezu prädestinierten Stelle ein „L“ zu viel eingeschlichen…. 😉

    1. Ganz herzlichen Dank für den wichtigen Hinweis. Wir haben auch schon alles möglich versucht die Buchstaben in die richtige Reihenfolge zu bekommen, aber nun ja wir sind Notfallmediziner und keine Buchdrucker oder IT-Spezialisten. D.h. wir bekommen es gerade nicht „alphabetisiert“. Nehmen wir es mit einem Lächeln und dem Bewusstsein die nächste URL mit mehr „Augenmass“ anzulegen. Mit herzlichen Grüssen Michael Bernhard

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