„Schutzschilde hoch!“ – die endotheliale Glykokalyx im Zentrum der Sepsis-Abwehr

Ein Gastbeitrag von Dr. Carolin Drost und Prof. Philipp Kümpers:

Wer kennt ihn nicht, den ikonischen Befehl aus dem Munde von Kapitänen und Kommandanten der Sternenflotte? Die „Schutzschilde“ ─ eine Energieblase, welche das komplette Raumschiff sphärisch umgibt und unter Beschuss gefährlich aufleuchtet ─ haben die USS-Enterprise und seine Crew in zahlreichen Missionen vor der sicheren Zerstörung durch Phaserkanonen oder Photonentorpedos bewahrt. Leider sind solche Schutzschilde in der modernen Sepsistherapie immer noch Science-Fiction.

Sepsis – die kurze und definierte Beschreibung einer aus dem Ruder gelaufenen Infektion, die den gesamten Körper und lebenswichtige Organe außer Gefecht setzt und nicht selten zum Tod führt. Seit Jahrzehnte kämpfen Medizin und Wissenschaft bereits darum, die Mechanismen hinter diesem Krankheitsbild zu verstehen und schwere Verläufe zu unterbinden. Dennoch zeigen sich seit Jahren kaum Veränderungen im Anteil schwerer septischer Verläufe und tödlichem Ausgang.

Aber wie nähert man sich einem Krankheitsbild, das durch verschiedenste Infektionen ausgelöst werden kann? Infektionen, die bei einigen Patienten nahezu harmlos verlaufen und bei anderen zu schwerstem Organversagen führen? Die seit 2016 erneuerte Sepsis-Definition gibt bereits einen wichtigen Hinweis darauf, dass es nicht die Infektion allein ist, die wir betrachten sollten. Viel mehr schient die konkrete Antwort des betroffenen Organismus bzw. Immunsystems auf eine Infektion dafür verantwortlich zu sein, ob eine Infektion sich auf den gesamten Körper ausbreitet und septisch verläuft oder nicht.

Gerade im Hinblick auf die Generalisierung einer Infektion spielt das Gefäßsystem eine wichtige Rolle. Bereits im frühen Stadium einer Sepsis zeigen sich regelhaft Störungen der Gefäßbarriere, die u.a. durch den Austritt von Flüssigkeit ins Gewebe und Bildung von Ödemen charakterisiert sind. Hier lohnt es sich, einen detaillierten Blick auf die Zusammensetzung der Gefäßbarriere zu werfen, insbesondere auf die endotheliale Glykokalyx (eGC). Es handelt sich bei der eGC vereinfacht gesagt um ein fragiles Geflecht aus verschiedenen Zuckerketten, Proteinen und Rezeptoren, das den gesamten Gefäßbaum von innen, wie eine Art Gel-Schicht auskleidet und die erste Barriere unseres Gefäßsystems bildet. Dieser endogene „Schutzschild“ des Gefäßsystems steht im Fokus einer spannenden Sonderausgabe von Matrix Biology Plus: The Glycocalyx: Pathobiology and Repair. In einem der zugehörigen Übersichtsartikel beschäftigen wir uns genauer mit der Frage, warum dieser Schutzschild in der Sepsis zerstört wird, welche Konsequenzen das hat und wie man dies in Zukunft evtl. verhindern kann.

Drost CC, Rovas A, Kümpers P. Protection and rebuilding of the endothelial glycocalyx in sepsis – Science or fiction? Matrix Biology Plus 2021. DOI: https://doi.org/10.1016/j.mbplus.2021.100091

Viele der darin vorgestellten Originalarbeiten liefern eindeutige Beweise dafür, dass die eGC eine zentrale Rolle in der Pathophysiologie der Sepsis und der Entwicklung einer vaskulären Leckage mit anschließender Organdysfunktion spielt. So konnte u.a. gezeigt werden, dass die eGC durch verschiedene Sepsis-Mediatoren wie z.B. Endotoxin, TNFα, Angiopoietin-2 oder Thrombin geschädigt werden kann (Abb. 1, Mitte). Da alle diese Mechanismen eine mehr oder minder prominente Rolle bei der Entstehung der Sepsis spielen, geht man von einer multifaktoriellen Schädigung des eGC aus. Auch wenn die zugrundeliegenden molekularen Mechanismen und Signalwege noch weitgehend unbekannt sind, scheint der letzte Schritt in der eGC-Schädigung bei Sepsis überraschend einheitlich zu sein: die Aktivierung und Freisetzung des Heparansulfat (HS) abbauenden Enzyms Heparanase (siehe Abbildung). Im Tierversuch verhindert die experimentelle Hemmung der Heparanase den eGC-Abbau und die sukzessive Entwicklung eines Multiorganversagens bei Mäusen ausgesprochen wirkungsvoll. Auch in einem humanen vitro Modell kann die Neutralisierung der Heparanase die Ausdünnung der eGC nach Inkubation von Serum septischer Patienten effektiv blockieren.

Abbildung: Schutz und Wiederaufbau der endothelialen Glykokalyx (eGC). Das Schema fasst potenzielle Ansätze zur Verhinderung von Sepsis-induzierten eGC-Schäden zusammen.

In den letzten Jahren ist die endotheliale Glykokalyx (und deren Schutz) daher vom Rande der Forschung in den Mittelpunkt der Pathophysiologie der Sepsis gerückt. Bislang ist der gezielte Schutz und Wiederaufbau der eGC in der klinischen Routine noch Fiktion. Angesichts der beeindruckenden Fortschritte in der eGC-Forschung sind die wissenschaftlichen Grundlagen jedoch bereits vorhanden, so dass dieser vielversprechende Ansatz in naher Zukunft Realität werden könnte. Vielleicht wird man das Kommando „Schutzschilde hoch!“ dann nicht nur beim nostalgischen TV-Abend, sondern auch in der Krankenversorgung hören – wir zumindest arbeiten daran und freuen uns schon darauf!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.