„Flutkatastrophe im Westen Deutschlands: Wenn nur noch Helikopter helfen können“

Ein Beitrag von PD Dr. Jürgen Knapp:

„Flutkatastrophe im Westen Deutschlands: Wenn nur noch Helikopter helfen können“ titelte vergangene Woche die Neue Zürcher Zeitung.

In den Flutgebieten wurden aus ganz Deutschland Rettungs- und Polizeihubschrauber, die mit Rettungswinden ausgestattet sind zusammengezogen. Die sog. Windenrettung (Helicopter hoist operation, HHO) ist oft die einzige Option, um in topographisch schwierig zu erreichendem Gelände z.B. auf See oder im Gebirge eine schnelle oder überhaupt eine Rettung durchzuführen. In Deutschland verfügen aktuell nur neun der 82 Rettungshubschrauber über eine Rettungswinde; diese sind meist im alpinen Raum oder an der Küste für die Rettung auf See bzw. Offshore-Anlagen stationiert.

Zum Thema «Windenrettung» sind aktuell zwei interessante Publikationen erschienen, die wir kurz vorstellen möchten:

Wilhelm A, Lefering R: Helicopter hoist operations in difficult nonalpine terrain. Air Medical Journal 2021. https://doi.org/10.1016/j.amj.2021.03.011

Die Studie kurz zusammengefasst:

  • retrospektive Analyse aller Rettungsdiensteinsätze im Rettungsdienstbereich von Baden-Baden, bei denen der Einsatzort nicht über eine Straße erreichbar war
  • Untersuchungszeitraum: 1.1.2007 bis 31.7.2018
  • Tracerdiagnose: Schwerverletzte/Polytrauma
  • der untersuchte Rettungsdienstbereich ist zwar sehr gut mit Rettungshubschraubern abgedeckt, von denen jedoch keiner mit einer Winde ausgestattet ist. Falls ein Rettungswindeneinsatz notwendig war, musste im Untersuchungszeitraum auf die Hubschrauber der Bundeswehr aus Niederstetten, Landsberg/Lech oder Malmsheim oder den Rettungshelikopter Rega 2 aus Basel zurückgegriffen werden
  • insgesamt konnten 386 Einsätze mit den oben genannten Kriterien identifiziert werden.
  • 135 der Einsätze konnten nicht ausgewertet werden, weil Daten unvollständig waren (n=25), der Einsatz abgebrochen (n=8) wurde oder die initiale Alarmierung des Rettungsdienstes ohne Sonderrechte (n=69!) erfolgte oder es sich um einen reinen Feuerwehreinsatz handelte (n=26)
  • von den verbliebenen 251 Einsätzen wurden nur 17 tatsächlich per Rettungswinde durchgeführt, 208 erfolgten bodengebunden. Unter diesen Einsätzen waren auch 22 Einsätze, in denen zwar eine Rettung des Patienten per Winde versucht wurde oder der Hubschrauber auf Anflug war, aber letztlich die Luftrettung abgebrochen werden musste bzw. der RTH abbestellt wurde.
  • die Prähospitalzeit war für Windeneinsätze mit im Median 104 min deutlich länger als für rein bodengebundene Einsätze mit 72 min (p<0,001)
  • in einer Simulationsrechnung wurde nun angenommen, dass der dem Rettungsdienstbereich Baden-Baden nächstgelegene RTH (Christoph 43 in Karlsruhe) mit einer Rettungswinde ausgestattet wäre. Es wurden (sehr großzügig) je 5 min Zeitbedarf zur Vorbereitung des Windenmanövers, 5 min zur Durchführung und 5 min zum Einladen des Patienten in den RTH nach erfolgter Windenrettung angenommen. Für die Dispositionszeit wurde eine Parallelalarmierung angenommen.
  • Mit dieser Simulationsrechnung wurde dann die komplette Prähospitalzeit für alle bodengebunden durchgeführten Rettungen berechnet.
  • Umgekehrt wurde für alle Windenrettungseinsätze in einer Simulation berechnet, wie lange die Prähospitalzeit gewesen wäre, wenn die Rettung bodengebunden durchgeführt worden wäre.
  • wenn man nach dieser Simulationsrechnung die Prähospitalzeiten vergleicht, kehrt sich der Zeitvorteil zugunsten des Einsatzes des RTH mit Rettungswinde um. Die Prähospitalzeit bei Windenrettung betrüge 80 min, bei der bodengebunden Rettung 91 min (p<0,001).

Welche Schlussfolgerungen für den praktischen Alltag können wir aus dieser Studie mitnehmen?

  • Die Ausstattung von RTH mit einer Rettungswinde könnte in Gebieten, die ein Einsatzspektrum ähnlich zum Rettungsdienstbereich Baden-Baden haben (viel bewaldetes Gebiet, hohe Freizeitaktivität durch Mountainbike-Fahrer und Kletterer), die Prähospitalzeit von Trauma-Patienten deutlich verkürzen
  • Aber v.a. muss auch die Rettungsleitstelle möglichst frühzeitig erkennen können, dass der Einsatz einer Rettungswinde sinnvoll ist, um eine Parallelalarmierung des RTH zu ermöglichen, sonst geht der Zeitvorteil sehr schnell wieder verloren. Dies gelänge beispielsweise durch die Nutzung von Geoinformationsdaten zur Identifizierung von „schwierigem Gelände“, das nicht problemlos für den bodengebundenen Rettungsdienst erreichbar ist.

In einer weiteren Studie wurden mehr als 11.000 Windeneinsätze der Schweizer Luftrettung im Hinblick auf die dabei notwendigen medizinischen Interventionen analysiert.

Pietsch, U., Knapp, J., Mann, M. et al. Incidence and challenges of helicopter emergency medical service (HEMS) rescue missions with helicopter hoist operations: analysis of 11,228 daytime and nighttime missions in Switzerland. Scand J Trauma Resusc Emerg Med 29, 92 (2021). https://doi.org/10.1186/s13049-021-00898-y

Die Studie in Kürze:

  • Es wurden retrospektiv alle HHO-Einsätze der Rega (Schweizerische Rettungsflugwacht) zwischen 2010 und 2019 analysiert. In diesem Zeitraum wurden 11.228 Windenrettungen durchgeführt; 9.963 (88.7%) bei Tag und 1.265 (11.3%) bei Nacht.
  • Von den Patienten mit potentiell lebensbedrohlichen Verletzungen (NACA ≥ 4) erreichten 21% (n=400) innerhalb 60 min das Krankenhaus während des Tages und bei Nacht 9% (n=18). Nacht, Trauma, Narkoseeinleitung und tracheale Intubation sowie ein NACA ≥ 4 waren unabhängig und hoch signifikant mit längeren Rettungszeiten assoziiert (p<0,001).
  • Die Mehrheit der HHO-Einsätze unter Tag wurden für leicht bis mittelschwer Verletzte (meist Sommer- oder Wintersportler ) durchgeführt (NACA 3, n=3731, 37.5%). Die häufigsten medizinischen Interventionen waren die Anlage eines i.v.-Zuganges (n=3.857, 39%) und Analgesie (n=3.121, 31.3%). Deutlich seltener mussten komplexere Interventionen (425, 4%) wie Narkoseeinleitung und tracheale Intubationen, kardiopulmonale Reanimation und Thorax-Entlastungspunktionen noch vor Ort durchgeführt werden.
  • Innerhalb des Beobachtungszeitraums von 2010 bis 2019 kam es zu einer deutlichen Zunahme der Windenrettungen von ca. 800/Jahr auf fast 1.300/Jahr, was am ehesten auf eine Zunahme der Freizeitsportaktivitäten im alpinen Gelände zurückzuführen ist.

Fazit:

  • die Crew ist auch bei Windeneinsätzen regelmäßig mit (potentiell) lebensbedrohlich erkrankten oder verletzten Patienten konfrontiert.
  • komplexe medizinische Interventionen sind zwar selten, müssen aber im Rahmen von Windeneinsätzen ohne personelle Unterstützung durchgeführt werden und daher absolut sicher unter diesen erschwerten Bedingungen beherrscht werden

Zusammenfassend kann man also feststellen: Der Einsatz der Winde eines RTH bei Rettungseinsätzen kann die Prähospitalzeit deutlich verkürzen und wird vermutlich zukünftig aufgrund der Veränderung der Freizeitaktivitäten und wohl leider auch die Zunahme von Wetterereignissen, die die Infrastruktur für die bodengebundene Rettung zerstören, an Bedeutung gewinnen. Dafür muss aber das ganze System abgestimmt werden. Dies setzt eine ausreichende Verfügbarkeit von mit Winde ausgestatteten RTH voraus, eine gute Disposition durch die Rettungsleitstelle (Verfügbarkeit von Geoinformationsdaten, Tracking der Rettungsmittel etc.) zur sinnvollen und möglichst primären Disposition des nächstgelegenen geeigneten RTH sowie umfassende Erfahrung und gutes Training der medizinischen Crew für Windeneinsätze.

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