Tranexamsäure beim schweren Trauma prähospital ?

Ein Gastbeitrag von Heiko Lier, Köln         Innerklinisch hat die Publikation der CRASH-2-Studie 2010 die Gabe von Tranexamsäure (TXA) bei Polytraumatisierten mit schwerer Blutung initialisiert [4]. Wurde TXA innerhalb von 3 Stunden nach Unfall infundiert, so zeigte sich eine reduzierte 28-Tage-Sterblichkeit, am ausgeprägtesten war die Wirkung bei Applikation innerhalb von 1 Stunde [3]. 2019 zeigte CRASH-3 für TXA bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma (SHT) nur bei mild bis mäßig Verletzten (Glasgow Coma Score [GCS] 9-15) einen Vorteil. Ein Haupt-Kritikpunkt der CRASH-Studien war die Patientenauswahl; mit >90% der Eingeschlossenen in Entwicklungsländern, ergab sich die Frage, ob die Daten auf Industrienationen mit hoch-entwickelten Versorgungsstrukturen übertragbar wären. Die aktuelle deutsche Polytrauma-Leitlinie gab ein Empfehlungsgrad A, d.h. ein „soll“, für TXA bei Patienten mit lebensbedrohlichen Blutungen und/oder im Schock (sowie bei nachgewiesener Hyperfibrinolyse) und betonte, dass eine Hyperfibrinolyse nur bei ~20% der Patienten auftritt [1].

Prähospital traf die Polytrauma-Leitlinie für TXA ein Empfehlungsgrad B, d.h. ein „sollte“ [1]. Eine im Juni 2023 publizierte systematische Übersicht notierte bei prähospitaler Gabe von TXA für die 24h-Sterblichkeit 8 Verstorbene weniger pro 1.000 Behandelte [2].

Mitte Juli wurde nun im New England Journal of Medicine eine randomisierte, kontrollierte TXA-Studie speziell zur Kombination „prähospital & Industrienationen“ veröffentlicht: die PATCH-Trauma-Studie [5].

Setting:

  • international, doppel-blind, randomisiert, Placebo-kontrolliert
  • 15 prähospitale Notfallversorger und 21 Krankenhäuser in Australien, Neuseeland und Deutschland
  • Transport luft- oder bodengebunden
  • EInschlusskriterium: hohes Risiko für Trauma-Indizierte Koagulopathie, d.h. „Coagulopathy of Severe Trauma (COAST) score“ ≥3. Je 1 Punkt für im Fahrzeug eingeklemmt, systolischer Blutdruck (SBP) <100 mmHg, Körpertemperatur <35°C, V.a. Pneumothorax, V.a. intraabdominelle oder Becken-Verletzung. Ein zusätzlicher Punkt für SBP <90 mmHg oder Körpertemperatur <32°C.

Intervention:

  • prähospital & innerhalb von 3h nach Unfall wurden 2 identische Glasampullen appliziert (1x Bolus, 1x über 8h): TXA (2x 1g) vs. NaCl 0,9% (Placebo).
  • plus standardmäßige, prähospitale Versorgung (u.a. ~35% EK, ~4% Plasma)
  • geplante Subgruppen:
    • Alter: <50a und ≥50a
    • GCS: <9 und ≥9
    • SBP: ≤75 mmHg, 76-89 mmHg, ≥90 mmHg
    • Unfallart: stumpf, penetrierend, Verbrennung
    • Zeit bis zu erster TXA: <1h, 1 bis <2h, ≥2h

Ergebnis:

  • primär: funktionelles neurologisches Ergebnis nach 6 Monaten mittels Glasgow Outcome Scale–Extended (GOS-E: 1 = Tod bis 8 = keine Beeinträchtigung) durch standardisierte, telefonische Befragung
  • sekundär: Sterblichkeit nach 24h, 28d und 6 Monaten; Thromboembolien (US-Doppler an Tag 7), Sepsis

Sicherheit:

  • geplante Interims-Analyse nach 296 und 592 Patienten

Ergebnisse:

  • 1310 Patienten; 1307 in der „intention-to-treat“ (657 TXA vs. 643 Placebo); Daten für das primäre Ergebnis bei 1131 Patienten (87%; 572 TXA vs. 559 Placebo).
  • Medianer ISS: TXA 29 (18-41) vs. Placebo 29 (17-38)
  • Bei 24,1% im Labor Hinweis auf Koagulopathie
  • Bei 39,3% Hinweis auf SHT (AIS head >2)
  • gutes neurologisches Ergebnis (GOS-E ≥5): TXA 53,7% vs. Placebo 53,3% (absolute Differenz 0,2%, 95%CI -5,6 bis 6,0; risk ratio [RR] 1,0; 95%CI 0,90-1,12, p=0,95)
  • gutes neurologisches Ergebnis (GOS-E ≥5) bei AIS head >2: TXA 35,4% vs. Placebo 38,2% (RR 0,93; 95%CI 0,73-1,18)
  • gutes neurologisches Ergebnis (GOS-E ≥5) bei AIS head <2: TXA 70,2% vs. Placebo 66,1% (RR 1,06; 95%CI 0,96-1,18)
  • Sterblichkeit nach 24h: TXA 9,7% vs. Placebo 14,1% (RR 0,69; 95%CI 0,51-0,94)
  • Sterblichkeit nach 28d: TXA 17,3% vs. Placebo 21,8% (RR 0,79; 95%CI 0,63-0,99)
  • Sterblichkeit nach 6 Monaten: TXA 19,0% vs. Placebo 22,9% (RR 0,83; 95%CI 0,67-1,03)
  • Mindestens 1 Gefäßverschluss: TXA 23,6% vs. Placebo 19,7% (RR 1,20; 95%CI 0,97-1,48)

Schlussfolgerung der Autoren:

  • Die prähospitale Gabe von TXA führt zu keiner signifikanten Verbesserung des neurologischen Ergebnisses nach 6 Monaten (bei 13% fehlenden Daten).
  • Für 100 Patienten, die prähospital TXA statt Placebo erhielten, überlebten zusätzlich 4 nach 6 Monaten, aber ebenfalls 4 hatten eine schwere neurologische Beeinträchtigung (GOS-E 1-4).
  • Die Ergebnisse bezüglich früher und blutungsbedingter Sterblichkeit entsprechen den CRASH-2-Ergebnissen.
  • Keine eindeutigen Unterschiede in den Untergruppen.

Kommentar:

Die prähospitale Gabe von TXA senkt die Sterblichkeit absolut um etwa 4%. Tendenziell positivere Effekte gibt es bei jüngeren Patienten (<50a; RR 1,06, 95%CI 0,92-1,21), bei Patienten im Schock (SBP ≤75 mmHg; RR 1,04, 95%CI 0,85–1,27) und bei penetrierendem Trauma (RR 1,30, 95%CI 0,921,83; Cave: nur ~7% vs. ~9% der Patienten). Eine eindeutige prähospitale Identifizierung, welcher Patient nun TXA erhalten soll, ist allerdings nicht möglich. Der Überlebensvorteil ist mit einer höheren Rate an deutlicher neurologischer Beeinträchtigung verbunden.

Wie in fast allen Studien mit systematischer Suche nach thromboembolischen Komplikationen, so zeigt sich auch hier, dass die Gabe von TXA ein seltenes, aber vorhandenes Risiko beinhaltet (tiefe venöse Thrombose: TXA 15,2% vs. Placebo 12,5%; RR 1,22; 95%CI 0,93-1,60; Herzinfarkt: 1,2% vs. 0,6%; RR 1,95; 95%CI 0,59-6,45; Schlaganfall: 2,9% vs. 2,2%; RR 1,32; 95%CI 0,67-2,62).

Damit ist TXA ein Teil unseres therapeutischen Gesamtkonzeptes bei der Versorgung von Patienten mit lebensbedrohlichen Blutungen und/oder im hämorrhagischen Schock, aber definitiv kein Wundermittel.

Literatur

  1. Arbeitsgemeinschaft Der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (2023) AWMF-Leitlinie 187-023: S3-Leitlinie Polytrauma / Schwerverletzten-Behandlung. https://register.awmf.org/assets/guidelines/187-023l_S3_Polytrauma-Schwerverletzten-Behandlung_2023-02.pdf Zugegriffen: 14 Feb 2023
  2. Biffi A, Porcu G, Castellini G et al. (2023) Systemic hemostatic agents initiated in trauma patients in the pre-hospital setting: a systematic review. Eur J Trauma Emerg Surg 49:1259-1270. DOI: 10.1007/s00068-022-02185-6.
  3. CRASH-2 Trial Collaborators, Roberts I, Shakur H et al. (2011) The importance of early treatment with tranexamic acid in bleeding trauma patients: an exploratory analysis of the CRASH-2 randomised controlled trial. Lancet 377:1096-1101, 1101 e1091-1092. DOI: 10.1016/S0140-6736(11)60278-X.
  4. CRASH-2 Trial Collaborators, Shakur H, Roberts I et al. (2010) Effects of tranexamic acid on death, vascular occlusive events, and blood transfusion in trauma patients with significant haemorrhage (CRASH-2): a randomised, placebo-controlled trial. Lancet 376:23-32. DOI: 10.1016/S0140-6736(10)60835-5 %).
  5. PATCH-Trauma Investigators, ANZICS Clinical Trials Group, Gruen RL et al. (2023) Prehospital Tranexamic Acid for Severe Trauma. N Engl J Med 389:127-136. DOI: 10.1056/NEJMoa2215457.

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