„VU – eingeklemmt“

EIn Beitrag von Jürgen Knapp, Bern       Jeder von uns kennt diese Einsatzmeldung, die in der Regel sehr viel Stress und Belastung für das ganze Team (Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei) bedeutet. Zu den oft nur unter erschwerten Bedingungen durchzuführenden medizinischen Maßnahmen und der gleichzeitig zu erwartenden hohen Verletzungsschwere, kommt noch dazu, dass zu einem sehr frühen Zeitpunkt nach Eintreffen beim Patienten eine Entscheidung gefällt werden muss, wie der Patient aus dem Fahrzeug befreit wird: Eine schnelle „Crash-Rettung“ oder doch die oft sehr zeitaufwändige Rettung unter strikter Immobilisation.

Eine aktuelle Veröffentlichung aus dem Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine (SJTREM) gibt hier wertvolle Hinweise, auf was man sich bei solchen Einsätzen gefasst machen muss.

Nutbeam T et al.

A comparison of the demographics, injury patterns and outcome data for patients injured in motor vehicle collisions who are trapped compared to those patients who are not trapped.

SJTREM 2021; 29: 17

Die Studie kurz zusammengefasst:

Methodik:

  • retrospektive Auswertung aus dem britischen Traumaregister TARN
  • eingeschlossen wurden alle Patienten nach einem Verkehrsunfall der Jahre 2012 bis 2018, die in Krankenhaus in England aufgenommen wurden
  • ausgeschlossen wurden sekundär zuverlegte Patienten
  • die Anzahl der Verkehrsunfälle mit eingeklemmten Personen wurde aus der Datenbank der Feuerwehren entnommen

Ergebnisse:

  • 63.625 Patienten wurden eingeschlossen
  • 6.983 Patienten waren in ihrem Fahrzeug eingeklemmt, 56.642 nicht eingeklemmt
  • Patienten, die eingeklemmt waren, hatte eine höhere Mortalität als nicht-eingeklemmte: 8,9% vs. 5,0% (p<0,001)
  • Rückenmarksverletzungen waren selten: nur 0,71% aller eingeklemmten Patienten
    • bei der Hälfte dieser Patienten fanden sich gleichzeitig weitere schwere zeitkritische Verletzungen anderer Organe
  • Rückenmarksverletzungen waren häufiger bei eingeklemmten als bei nicht-eingeklemmten Patienten (p<0,001)
  • die Verletzungsschwere war bei eingeklemmten Patienten höher: injury severity score (ISS) im Median 18 (IQR: 10-29) im Vergleich zu 13 (IQR: 9-22)
  • eingeklemmte Patienten hatte schlechtere Vitalparameter: schlechtere Sauerstoffsättigung, niedriger Blutdruck und niedrigerer GCS
  • eingeklemmten Verkehrsunfallopfer hatten häufiger schwere Verletzungen des Kopfes, des Thorax, der Wirbelsäule, des Abdomens und des Beckens als nicht eingeklemmte

Schlussfolgerung der Autoren:

  • „Patients who are trapped are more likely to have time-critical injuries requiring intervention. Extrication takes time and when considering the frequency, type and severity of injuries reported here, the benefit of movement minimisation may be outweighed by the additional time taken. Improved extrication strategies should be developed which are evidence-based and allow for the expedient management of other life-threatening injuries.

Diskussion:

  • die Autoren der Studie betrachten in ihrer Schlussfolgerung nur die 0,7% der eingeklemmten Patienten, die durch den Unfall eine Rückenmarksverletzung erlitten haben
  • allerdings profitieren ja auch Patienten mit instabilen Wirbelkörperfrakturen oder beispielsweise Dens axis-Frakturen ohne bereits eingetreten Rückenmarksschaden von einer Wirbelsäulenimmobilisation.
  • zur besseren Übersicht habe ich daher in folgender Tabelle die aus der Studie zur Verfügung stehenden Zahlen zu den einzelnen Verletzungen mal gruppiert nach Verletzungen, die eigentlich eine achsengerechte und Wirbelsäulen-immobilisierte Rettung aus dem Fahrzeug indizieren, sehr zeitkritischen Verletzungen und weiteren (stabilen) Wirbelsäulenverletzungen
  Verletzung Anteil der Eingeklemmten
Patienten, die von einer Wirbelsäulenimmobilisation profitieren instabile Wirbelkörperfrakturen 1,46%
Rückenmarksverletzung 0,71%
Dens axis-Fraktur

0,33%

Patienten mit sehr zeitkritische Verletzungen instabile Beckenringfraktur mit einem Blutverlust von >20% 0,16%
Blutverlust >20% aus anderen Körperregionen 0,56%
Spannungspneumothorax 0,24%
weitere Wirbelsäulenverletzungen Multiple stabile Wirbelkörperfrakturen 2,41%
Wirbelkörperkompressionsfrakturen 0,27%
  • zu berücksichtigen ist, dass Patienten mit instabilen Wirbelsäulenfrakturen gleichzeitig auch andere zeitkritische Verletzungen haben können. Bei den Patienten mit Rückenmarksverletzungen beispielsweise war dies bei der Hälfte der Fall. Für andere Patienten werden die Zahlen in der Studie nicht angegeben.

Fazit für die Praxis:

  • insgesamt sind Verletzungen, die eine strikte Wirbelsäulenimmobilisation indizieren bei eingeklemmten Patienten nach Verkehrsunfall recht selten. Gemäß den hier erhobenen Daten bei etwa 2,5% der Patienten.
  • sehr zeitkritische Verletzungen sind inzwischen glücklicherweise auch selten und liegen bei etwa 1,0% der Eingeklemmten vor. Eine sehr zeitaufwändige Rettung aus dem Fahrzeug ist für diese Gruppe an Patienten nachteilig.

Dies gilt es bei der Entscheidung hinsichtlich der Bergungsart der Patienten zu berücksichtigen. Hier braucht es vom Rettungsteam also viel Erfahrung und klinischen „Spürsinn“, sowie eine gute Absprache mit der Feuerwehr, wie der individuelle Patient am sinnvollsten aus dem Fahrzeug befreit wird. Eine sehr zeitaufwändige Rettung, nur um die Wirbelsäule strikt immobilisiert zu halten, bedarf sicher einer guten Nutzen/Risiko-Abwägung.

2 thoughts on “„VU – eingeklemmt“

  1. Liebes News-Papers-Team und lieber Herr Knapp,

    Vielen Dank für den Artikel und für den Diskussionspunkt, dass für die Nutzen-Risiko-Abwägung auch die „potentiell zeitkritischen“ Verletzungen einbezogen werden sollten, die im Verlauf eine Rückenmarksverletzung auslösen können.
    Wäre es nicht aber wichtig, zusätzlich zu den unmittelbar zeitkritischen Verletzungen (die in der Abwägung eher für die Crash-Rettung wiegen), auch die Verletzungen einzubeziehen, die im späteren Verlauf von einer initial kurzen Prähospitalzeit profitieren?
    Ich denke da vor allem an Polytraumatisierte, für die eine verlängerte Prähospitalzeit vielleicht erst mittel- und langfristig negative Auswirkungen auf Mortalität und Morbidität hat, ohne dass dieses gleich als Endpunkt dieser Studie erfasst wird.
    Leider finde ich in der Studie nur die gemittelten ISS-Werte für beide Gruppen – hier wäre es doch spannend gewesen, wie viele der Patienten unabhängig von der Gruppenzugehörigkeit einen ISS>15 hatten, damit man diese auch zu der „potentiell zeitkritischen“ Anzahl zählen könnte.

    Die Autoren geben als Limitation an, dass durch den Zeitpunkt der Datenaufnahme in das Register die prähospital verstorbenen Patienten nicht in die Studie aufgenommen wurden.
    Das könnten also auch Patienten sein, die auf Grund einer (zu) langen Rettungszeit das Krankenhaus nicht erreicht haben. Hierdurch wird die Zahl der zeitkritischen (aber nicht gezählten) Patienten noch zusätzlich beeinflusst – da manche so zeitkritisch waren, dass sie nicht einmal das Register erreicht haben.

    Müsste man dann nicht insgesamt von einer deutlich höheren (leider nicht zu beziffernden) Anzahl an Patienten ausgehen, die über die genannten 1% hinaus von einer schnellen Rettung profitieren?

    1. Sehr geehrter Herr Klössing,

      vielen Dank für Ihren Kommentar, über den wir uns sehr freuen. Die von Ihnen genannten Punkte sind sicher weitere Limitationen der Studie. Interessant wäre auch gewesen, bei wie vielen Patienten mit instabilen Wirbelsäulenverletzungen zeitkritische Verletzungen anderer Organe vorlagen. Auch wie von Ihnen vorgeschlagen bei dieser beachtlichen Patientenzahl eine weitere Aufteilung nach ISS wäre möglich gewesen. Ich hab mich in meiner Kritik an der Studie mehr auf die sehr enge Definition einer „immobilisationswürdigen“ Wirbelsäulenverletzung gestürzt.
      Was man dennoch aus der Studie mitnehmen kann ist: Wirbelsäulenverletzungen sind inzwischen glücklicherweise selten (ca. 2-3%). Wirklich zeitkritische Verletzungen werden mit 1% angegeben, aber vermutlich eher unterschätzt (siehe Ihr Argument und: es finden sich beispielsweise keine Angaben zu Aortendissektionen, gedeckten Leber- oder Milzrupturen, Subduralhämatom etc.)….das bedeutet, dass die Einklemmung nicht das einzige Kriterium sein darf, sondern wir auch die Vitalparameter, die Anamnese, den Body-Check in die Frage mit einbeziehen müssen, welche Wertigkeit die Immobilisation für jeden einzelnen Patienten hat.

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