Das haben wir schon immer so gemacht! Präklinischer Einsatz von Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern bei Patienten mit akutem Thoraxschmerz

Das haben wir schon immer so gemacht! Präklinischer Einsatz von Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern bei Patienten mit akutem Thoraxschmerz

Ein Beitrag von Dr. Robert Stangl, Köln:

Der akute Thoraxschmerz ist ein häufiger Alarmierungsgrund des Rettungsdienstes. Die Genese ist mannigfaltig und das Spektrum potenziell lebensbedrohlicher Differenzialdiagnosen ist groß. Im Gegensatz zu einem stationären Setting sind die diagnostischen Möglichkeiten im präklinischen Bereich limitiert. Häufig wird präklinisch die Verdachtsdiagnose auf ein akutes Koronarsyndrom ohne ST-Streckenhebung (NSTE-ACS) gestellt und konsekutiv werden regelhaft Aspirin (ASS) und/oder unfraktioniertes Heparin (UFH) verabreicht. Leitlinienbasierte Empfehlungen für dieses Vorgehen existieren hingegen nicht.

Die Kölner Arbeitsgruppe um Christoph Adler und Kollegen haben in einer retrospektiven Kohortenstudie Patientinnen und Patienten mit akutem Thoraxschmerz untersucht, die nach notärztlicher Versorgung in die Uniklinik Köln eingeliefert wurden. Ziel der Studie war es zum einen, die diagnostische Genauigkeit der präklinisch gestellten Diagnose mit der Abschlussdiagnose zu korrelieren und zum anderen die präklinische Applikation von ASS und UFH zu erfassen. Patienten mit ST-Hebungsinfarkt wurden von der Untersuchung ausgeschlossen.

Braumann S et al. Acute chest pain—diagnostic accuracy and pre-hospital use of anticoagulants and platelet aggregation inhibitors. Dtsch Arztebl Int 2023; 120: 317–23.

Insgesamt wurden 822 Patientinnen und Patienten (64% männlich, Durchschnittsalter 65 ± 17 Jahre) analysiert. Bei 74,7 % der Patientinnen und Patienten (n=614) wurde präklinisch die Verdachtsdiagnose eines NSTE-ACS gestellt. Hingegen bestätigte sich dieser Verdacht abschließend nur in 26,3 % der Fälle (n=217). Daraus resultierte ein positiver Vorhersagewert (PPV) für ein NSTE-ACS von lediglich 32,2 %.

Im Gesamtkollektiv wurde präklinisch bei 51 % (n=419) ASS, bei 55 % (n=453) UFH und bei 46,4 % (n=381) der Patientinnen und Patienten beide Wirkstoffe verabreicht. Stellte der Notarzt die Verdachtsdiagnose NSTE-ACS, so wurde sogar in 64,4 % (n=395) ASS, bei 69,5 % (n=427) UFH in 58,8 % (n=361) der Fälle beide Wirkstoffe appliziert. Insgesamt erhielten viele Patientinnen und Patienten eine blutverdünnende Therapie, obwohl dies retrospektiv betrachtet nicht indiziert war. Wurden die Betroffenen zuvor bereits mit einem Vitamin-K-Antagonisten (VKA) oder direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) behandelt, so beeinflusste dies die präklinische Entscheidung zur Applikation von ASS und/oder UFH.

Die Autoren schlussfolgern, dass die Diagnose eines NSTE-ACS in der Präklinik schwierig zu stellen ist und dies häufig zu einem übermäßigen Einsatz von ASS und UFH führt.

Kommentar

Dogmen haben ein langes Leben. Auch in der Notfallmedizin gibt es nicht wenig Handlungsroutinen, die immer wieder reproduziert werden, weil man es ja eigentlich immer schon so gemacht hat. Ein Beispiel hierfür ist die routinemäßige, manchmal nahezu reflexhafte Gabe von ASS und/oder UHF. Alles, was im Thorax wehtut und ja „irgendwie auch ein NSTE-ACS sein könnte,“ erhält schnell diese beiden Wirkstoffe. Die Evidenz hinter diesen Routinen ist manchmal erschreckend gering.

Die Kölner Arbeitsgruppe um Adler et al. aus der kardiologischen Universitätsklinik, hat sich hier wieder einmal einem wichtigen notfallmedizinischen Thema angenommen, um eine gelebte Praxis anhand von Real-live Daten auf den Prüfstand zu stellen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind erschreckend. Ein positiver Vorhersagewerte (PPV) um die 30 % für die Indikationsstellung einer potenziell mit Komplikationen und Nebenwirkungen behafteten Maßnahme ist inakzeptabel.

Welche Konsequenzen sind aus der vorliegenden Arbeit zu ziehen? Zunächst einmal sollten die Ergebnisse das individuelle, persönliche Handeln beeinflussen. Nur eine sorgfältige Prüfung des klinischen Bildes in der Zusammenschau aus individuellem Risikoprofil, subtiler Analyse der akuten Symptomatik und des EKG-Befundes ist geeignet, eine für eine sorgfältige Indikationsstellung unabdingbare Wahrscheinlichkeitsabschätzung für das tatsächliche Vorliegen eines NSTE-ACS abzugeben. Wenn man nach der Lektüre der Arbeit sich gefordert sieht, seine eigene Praxis kritisch zu hinterfragen, haben die Kölner Kollegen schon sehr viel erreicht.

Natürlich hat die vorgelegte Arbeit Limitationen. Es handelt sich um eine monozentrische, retrospektive Arbeit, so dass nur anhand dessen keine unmittelbaren Handlungsempfehlungen für die präklinische Praxis ableitbar sind. Entsprechend wäre ein prospektiver, multizentrischer Ansatz wünschenswert, um die bisherigen Ergebnisse zu validieren. Natürlich ist dies mit Aufwand verbunden. Es scheint jedoch den Aufwand wert, um eine derart ubiquitäre verbreitete Maßnahme zu evaluieren und echte Evidenz zu schaffen.

 

2 thoughts on “Das haben wir schon immer so gemacht! Präklinischer Einsatz von Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern bei Patienten mit akutem Thoraxschmerz

  1. Das deckt sich mit meiner Vorgehensweise! Bei Thoraxschmerz, eher unspezifisch mit aber bestehenden Risikofaktoren, verabreiche ich kein ASS oder UFH und definiere „Zum Ausschluss ACS“ als Diagnose. Der Patient/in ist eh in max 40 Minuten in einer ZNA und der Ausschluss kann rasch erfolgen. Falls doch positiv, sind 40 Minuten Zeitverzögerung bei der ASS und UFH Gabe im NSTH ACS wohl nicht wirklich relevant, oder gibt es da Studien die ich nicht kenne?

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