Wirbelsäulenimmobilisation – Neue norwegische Empfehlung

Ein Beitrag von PD Dr. Jürgen Knapp, Bern, Schweiz:

Die Praxis der Wirbelsäulenimmobilisation bei Traumapatienten unterlag in den vergangenen Jahren einer stetigen Diskussion hin bis zu einem deutlichen Wandel. Während man früher sehr großzügig von einer Verletzung der Wirbelsäule ausging und die Patienten mit Halswirbelsäulenimmobilisationsschiene versehen und in eine Vakuummatratze „eingepackt“ oder auf Spineboards „geschnallt“ hat, häuften sich die Hinweise über eine mangelnde Effektivität sowie mögliche schädliche „Nebenwirkungen“ dieser Maßnahmen.

Kornhall und Kollegen veröffentlichten im Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine die norwegischen Leitlinien zur spinalen Immobilisation beim Traumapatienten:

Kornhall, D. K., Jørgensen, J. J., Brommeland, T., Hyldmo, P. K., Asbjørnsen, H., Dolven, T., et al. The Norwegian guidelines for the prehospital management of adult trauma patients with potential spinal injury. Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine, 2007; 25:2  http://doi.org/10.1186/s13049-016-0345-x (PDF)


Die Ergebnisse des interdisziplinären Konsensusprozesses bestehend aus Neurochirurgen, Unfallchirurgen, Anästhesisten und Notfallmedizinern beruhend auf einer systematischen Recherche und Evaluation der Literatur (63 Originalarbeiten und 6 systematische Reviews) lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Patienten mit einer möglichen Wirbelsäulenverletzung sollten mit „minimal handling“ behandelt und achsengerecht immobilisiert werden. (Evidenz: sehr gering, Empfehlung: stark.)
  • Die Wirbelsäulenimmobilisation darf niemals lebensrettende Maßnahmen wie das Atemwegsmanagement, die Blutungskontrolle oder die Kreislaufstabilisierung verzögern. Auch darf es durch langwierige Immobilisationsmaßnahmen beim hämodynamisch instabilen Patienten oder z.B. beim schweren Schädel-Hirntrauma nicht zu einer Verzögerung des Transports ins Traumazentrum kommen  (Kreinest et al. 2016, s.u.).
    • Das Erkennen des lebensbedrohlich verletzten Traumapatienten erfordert viel klinische Erfahrung. Daher bieten die Autoren auch hier eine „Faustregel“: Als „instabil“ sei ein Patient zu beurteilen mit
      • einer Atemfrequenz <10/min oder >30/min oder
      • einer Herzfrequenz >120/min oder
      • fehlenden Radialispulsen oder
      • fehlender motorischer Reaktion auf Aufforderung
  • Patienten mit isoliertem penetrierendem Trauma sollten nicht immobilisiert werden.
    (Evidenz: moderat, Empfehlung: stark.)
  • Klare Triagekriterien zur Immobilisation des Patienten basierend auf den klinischen Befunden sollten implementiert werden.
    (Evidenz: moderat, Empfehlung: stark.)
    Auch wenn die NEXUS- und die Canadian-C-Spine-Rules entworfen wurden, um die Notwendigkeit einer klinischen Bildgebung zu definieren, würden sich diese Kriterien in Ermangelung besserer Kriterien auch für die prähospitale Situation eignen, um über die Notwendigkeit einer WS-Immobilisation zu entscheiden. Die norwegischen Leitlinien empfehlen daher die Anwendung der NEXUS-Kriterien: Bei fehlender Druckempfindlichkeit (bei Palpation), fehlendem fokalen neurologischen Defizit, normaler Bewusstseinslage (also GCS=15), fehlender relevanter Intoxikation (mit Alkohol oder Drogen) und dem Fehlen von „ablenkenden“ Verletzungen könne demnach auf eine WS-Immobilisation verzichtet werden.
  • Die HWS-Immobilisation sollte durch manuelle in line-Stabilisation (MILS), Head blocks, feste Halskragen oder einer Kombination daraus erfolgen. (Evidenz: sehr gering.)
    Keine der Methoden zeige eine klinische Überlegenheit hinsichtlich der Immobilisation der HWS. Die Rettung aus dem Fahrzeug sowie der Transport könnten auch nur unter MILS oder durch Immobilisation mit Head blocks erfolgen.
  • Der Transfer des Patienten auf die Rettungsdienst-Trage und von dieser Trage auf den Stretcher in der Notaufnahme solle per Schaufeltrage erfolgen. (Evidenz: sehr gering.)
    Log roll-Manöver zeigten in einigen Untersuchungen eine signifikante Bewegung in der Wirbelsäule. Ein Log roll-Manöver sollte daher auf den innerklinischen Bereich mit hohen personellen Ressourcen und dem Drehmanöver auf einer horizontalen und ebenen Unterlage beschränkt werden.
  • Patienten mit möglicher Wirbelsäulenverletzung sollten auf einer Vakuummatratze transportiert werden. Eine Immobilisation mit harter Liegefläche (Spineboard, Schaufeltrage) könne zu Lagerungsschäden führen und sollte nur für sehr kurze Transportzeiten erfolgen. Letztere sollten nur zur Rettung des Patienten dienen. (Evidenz: sehr gering.)
  • Patienten könnten unter gewissen Umständen aufgefordert werden, sich selbst aus dem Fahrzeug zu befreien („self extraction“). (Evidenz: sehr gering.)
    2 experimentelle Studien zeigten mit dieser Methode eine verbesserte Stabilität der Wirbelsäule im Vergleich zur externen Stabilisierung. Die sei jedoch nur beim wachen Patienten ohne „ablenkende“ Verletzung empfohlen im Sinne einer Nutzung des Patienten-eigenen Muskeltonus zur optimalen Stabilisierung der Wirbelsäule.

Diskussion

Sicher können die Empfehlungen nicht einfach unkritisch und unreflektiert auf Deutschland übertragen werden.

  • Unbedingt beachtet werden muss, dass es in Deutschland ärztliche Aufgabe ist, im prähospitalen Bereich Verletzungen auszuschließen.
  • Die im Paper zitierten Arbeiten beschreiben zum großen Teil das Vorgehen von speziell auf die Triage von Wirbelsäulenverletzungen trainierten Paramedics. Das heißt auch, das Notärzte für die Triage fundiert (und besser als bisher) ausgebildet und trainiert sein müssen.
  • Wir können diese Empfehlungen aber zusammen mit anderen internationalen Empfehlungen gut als Grundlage nehmen, um auch in Deutschland – gemeinsam mit allen am Rettungsdienst Beteiligten – über dieses Thema zu diskutieren und ein gemeinsames, ggf. deutschlandweit einheitliches und verbindliches Vorgehen zu vereinbaren.
  • Dabei müssen die Stärken und Schwächen der NEXUS-Kriterien zum prähospitalen Ausschluss von Wirbelsäulenverletzungen diskutiert werden. Beispielweise ist hier zu diskutieren, ob die Validierung für die NEXUS-Kritierien tatsächlich an einem Patientenkollektiv erfolgte, die ausreichend Wirbelsäulenverletzungen aufwiesen, um die entsprechenden Rückschlüsse auf die gewünschte Intention ziehen zu können.
  • Schließlich ist zu der Empfehlung der „self-extraction“ noch kritisch anzumerken, dass dies unrealistisch ist: Patienten ohne ablenkende Verletzungen haben sich sicher ohnehin aus dem Fahrzeug befreit bis der Rettungsdienst eintrifft.

Literatur

Kornhall D, et al. The Norwegian guidelines for the prehospital management of adult trauma patients with potential spinal injury. Scandinavian Journal of Trauma, Resuscitation and Emergency Medicine, 2017; 25: 2. http://doi.org/10.1186/s13049-016-0345-x (PDF)

Kreinest, et al. Untersuchung der Anwendbarkeit eines neuen Protokolls zur Immobilisation der Wirbelsäule. Indikationsstellung anhand des E.M.S. IMMO Protocol für erwachsene Traumapatienten. Notfall Rettungsmed 2016; 16: 473-82


Abbildung: PD Dr. Knapp, Bern, Schweiz


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