Blutzuckertherapie in der operativen Medizin ist weiterhin ein umstrittenes Thema. Im Deutschen Ärzteblatt wurde die aktuelle Evidenz dazu noch einmal aufgearbeitet:
Roth J et al. Blutglukoseziele in der operativen Intensivmedizin. Management und Besonderheiten bei Menschen mit Diabetes. Deutsche Ärzteblatt. Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 629-36; DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0221 (PDF)
Hintergrund:
- Bei 30–80 % der Patienten auf Intensivstationen kommt es perioperativ zu einer Hyperglykämie. Diese Stresshyperglykämie wird über inflammatorisch-endokrine sowie iatrogene Stimuli ausgelöst beziehungsweise unterhalten und bedarf regelmäßig therapeutischer Interventionen.
- Dabei bestehen Unsicherheiten, welche Blutglukoseziele für Patienten mit Diabetes mellitus anzustreben sind.
Methode:
- selektive Literaturrecherche in PubMed und über GoogleScholar.
Ergebnisse:
- ICU-Patienten mit vorbestehendem Diabetes mellitus profitieren nicht im selben Ausmaß von einer Blutglukosesenkung wie stoffwechselgesunde, werden aber gleichermaßen einem relevanten Hypoglykämierisiko ausgesetzt.
- Ein „strenger“ Therapiekorridor zwischen 4,4–6,1 mmol/L (79–110 mg/dL) ist für Patienten mit Diabetes mellitus nicht zu rechtfertigen.
- Perioperativ das wichtigste Therapieziel: Vermeidung von Hypoglykämien in jedem Fall.
- Negativfolgen der Hyperglykämie sind unter anderem neurotoxische Effekte und die Begünstigung von Wundheilungsstörungen. Metaanalysen belegen, dass eine obere Blutglukosegrenze von 10 mmol/L (180 mg/dL) mit einem günstigeren Ergebnis für Patienten mit Diabetes mellitus verbunden ist als eine niedrigere Schwelle.
- Der von Fachgesellschaften für hospitalisierte Menschen mit Diabetes mellitus vorgeschlagene Zielbereich von 7,8–10 mmol/L (140–180 mg/dL) scheint der Gratwanderung, einerseits eine Hypoglykämie zu vermeiden und andererseits die klinischen Resultate zu optimieren, derzeit am ehesten gerecht zu werden.
- Mittel der Wahl zur Therapie in der Intensivmedizin ist die kontinuierliche intravenöse Insulingabe, deren Anwendung es erfordert, dezidierte Rahmenbedingungen einzuhalten.
Schlussfolgerung:
- In der Intensivmedizin ist eine optimale Blutglukosekontrolle für Patienten mit Diabetes mellitus darauf ausgerichtet, sowohl eine Hypoglykämie zu vermeiden als auch einen Zielbereich bis 10 mmol/L (180 mg/dL) zu erreichen.
- Die leitliniengerechte Steuerung der Ernährungstherapie ist hierbei eine unabdingbare Voraussetzung.
Kernaussagen:
- Aktuell existiert keine Level-I-Evidenz, die eine Glukosesenkung unter einen Glukosezielbereich von 7,8–10 mmol/L (141–180 mg/dL) für kritisch kranke Patienten mit Diabetes mellitus rechtfertigen würde.
- Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass ebenfalls hoch zu priorisieren ist, die Therapiezielbereiche zu individualisieren sowie relative und absolute Hypoglykämien zu vermeiden.
- Neben der Insulin- ist die Ernährungstherapie eine gleichberechtigte Säule der Stoffwechseleinstellung. Australische Beobachtungsstudien geben Hinweise darauf, dass eine liberale Stoffwechseleinstellung für ICU-Patienten mit Diabetes mellitus keine negativen Auswirkungen auf die kurzfristige Mortalität und Morbidität hat.
- Ob die intensivmedizinsche Standardversorgung künftig auch Werte zwischen 10–14 mmol/L (180–252 mg/dL) für kritisch kranke Menschen mit Diabetes mellitus beinhalten wird, müssen weitere Studien zeigen.
- Im Einklang mit den Leitlinien der federführenden Fachgesellschaften gilt bis dahin:
- Insulintherapie ist erst ab 10 mmol/L (180 mg/dL) beginnen.
- Zielbereich zwischen 7,8–10 mmol/L (140–180 mg/dL) ist anstreben.
- Blutglukosewert von 15 mmol/L (270 mg/dL) ist ebenso unerwünscht ist wie ein Wert ≤3,8 mmol/L (68 mg/dL).
Lesen Sie hierzu auch noch einmal unseren Beitrag prädikativen Wert der Blutglucose bei Aufnahme in den nicht-traumatologischen Schockraum:
Aufnahmeblutzucker als Risikoparameter im nicht-traumatologischen Schockraum