Gesunder Menschenverstand vs. Evidenz

Ein gemeinsamer Beitrag von Jürgen Knapp und Björn Hossfeld:

Die Weihnachtsausgabe des British Medical Journal beschäftigt sich seit vielen Jahren augenzwinkernd mit relevanten Fragen der Medizin.

Schon in der BMJ-Weihnachtsausgabe des Jahres 2003 stellten Smith und Pell die Frage nach dem Nutzen von Fallschirmen.

Smith GCS, Pell JP

Parachute use to prevent death and major trauma related to gravitational challenge: systematic review of randomised controlled trials.

BMJ 2003; 327: 1459–1461

Damals stellten die Autoren fest, dass der Nutzen von Fallschirmen nie wissenschaftlich (also in einer randomisierten Kontrollstudie – randomised controlled trial – RCT) untersucht wurde, sondern sich lediglich auf „anekdotische“ Fallbeschreibungen stütze. Deshalb suchten sie im Medline nach Artikel, die Sprünge oder Stürze aus mindestens 100 m Höhe beschrieben, bei der Fallschirme entweder eingesetzt wurden oder auch nicht. Als primäre Zielgröße legten sie Tod oder schweres Trauma mit einem Injury Severity Score (ISS) > 15 fest.

Fallschirm pixabay

Da sie bei dieser Literatursuche keine RCT zur Fragestellung finden konnten, mussten sie sich auf Fallberichte abstützen, um die Mortalität von Stürzen oder Sprüngen mit Fallschirm von solchen zu unterscheiden, bei denen kein Fallschirm zum Einsatz kam, respektive bei denen der Fallschirm – aus welchen Gründen auch immer nicht ausgelöst hatte, und so seine mutmaßliche Bremswirkung nicht entfalten konnte.

Da jedoch einerseits Berichte vorlagen, bei denen Verletzungen oder gar Tod trotz der Verwendung eines Fallschirms eingetreten sind, und andererseits Stürze aus großer Höhe überlebt wurden, schlossen die Autoren, dass es für den Nutzen von Fallschirmen keinen wissenschaftlichen Beweis gäbe. Gleichzeitig verwiesen sie darauf, dass ein RCT in diesem Bereich nur schwer möglich wäre, da die Gruppe derer, die ohne Fallschirm aus einem Flugzeug sprängen (psychiatrisch auffällig) und derer, die einem Fallschirm nutzen (psychiatrisch unauffällig) nicht ohne weiteres verglichen werden könnten.

Sie schlossen mit dem Fazit, dass wir in der Medizin manche Aspekte auch ohne RCT akzeptieren müssten.

Anderthalb Dekaden später ist es einer Arbeitsgruppe um Yeh gelungen, sich dieser Fragestellung erneut zu nähern und Probanden mit Fallschirmen oder leeren Rucksäcken aus einem Flugzeug springen zu lassen:

Yeh RW, Valsdottir LR, Yeh MW, Shen C, Kramer DB, Strom JB, Secemsky EA, Healy JL, Domeier RM, Kazi DS, Nallamothu BK

Parachute use to prevent death and major trauma when jumping from aircraft: randomized controlled trial.

BMJ 2018; 363: k5094 (PDF)

Die Studie kurz zusammengefasst:

  • Ziel der Studie war, zu untersuchen, ob das Tragen von Fallschirmen, die Rate an Todesfällen und schweren Verletzungen beim Sprung aus dem Flugzeug reduziert.
  • randomisiert kontrollierte Studie
  • Studienzeitraum 2017 bis 2018
  • 92 Passagiere eines Flugzeugs/Hubschraubers wurden gescreent
  • 23 Passagiere stimmten einer Teilnahme zu
  • randomisiert mussten die Passagiere entweder mit einem funktionsfähigen Fallschirm oder einem leeren Fallschirmrucksack aus dem Flugzeug/Hubschrauber springen
  • n=12 Passagiere in der Fallschirm-Gruppe, n=11 Passagiere in der „Rucksack“-Gruppe
  • Ergebnisse:
    • kein Unterschied in der Mortalität und der Verletzungsschwere unmittelbar nach Auftreffen auf dem Boden
    • auch 30 Tage nach dem Ereignis zeigte sich keine relevanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen
  • Diskussion:
    • Das Tragen von Fallschirmen beim Sprung aus einem Flugzeug/Helikopter schient keinen Vorteil zu bringen.

Das Ergebnis könnte möglicherweise dadurch beeinflusst worden sein, dass anders als bei der Untersuchung von 2003 keine Mindesthöhe von 100 m vorausgesetzt wurde, sondern die mittlere Absprunghöhe aller randomisierten Studienteilnehmern bei 0,6 m (Standardabweichung 0,1 m) lag und das Flugzeug/der Hubschrauber eine Geschwindigkeit von 0 km/h hatte.

 

Fazit für die Praxis:

  • natürlich sind randomisiert kontrollierte Studien das „non-plus ultra“ in der evidenz-basierten Medizin, aber nicht immer muss und kann alles in der Medizin mit Studien sinnvoll belegt werden. Oft eignet sich nur viel praktische Erfahrung und der „gesunde Menschenverstand“. Auch lassen sich Erkenntnisse aus Studien nicht immer einfach auf unsere „echten“ Patienten übertragen.
  • entscheidend ist auch: ist die Studie an einem Patientenkollektiv sowie unter Bedingungen durchgeführt, die der Realität in der eigenen Berufspraxis entsprechen.
  • bei allen Studien ist es auch dringend notwendig, sich die Details anzuschauen, „hinter die Kulissen zu schauen“ und das „Kleingedruckte“ zu lesen und nicht nur den Titel oder das Abstract zu lesen und Studienergebnisse immer möglichst kritisch zu betrachten

Kaum jemand in unserem arbeitsreichen und stressigen Job im Bereich der Notfallmedizin hat genügend Zeit, immer „up to date“ zu bleiben und regelmäßig die aktuellsten Studien detailliert durchzulesen. Wir versuchen daher, Sie hier bei news-papers.eu durch die inzwischen vollkommen unübersichtliche Welt der notfallmedizinischen Studien zu lotsen, Ihnen die relevanten Ergebnisse vorzustellen, kritisch zu diskutieren und in Kontext zu unserer alltäglichen Arbeit zu setzen.

Dabei sind auch wir nicht von Beeinflussungen durch unsere eigene Arbeit, persönliche Vorlieben oder andere Perspektiven gefeit. Deshalb sind jederzeit herzlich eingeladen mit uns zu diskutieren. Denn gerade in der Notfallmedizin, wo sich Mythen und „Traditionen“ oft hartnäckig halten, ist neben Wissenschaft und Forschung diese kritische Diskussion unabdingbar, um für unsere Patienten das Beste zu erreichen.

Wir danken Ihnen dafür, dass Sie regelmäßig bei uns reinschauen. Ihnen und Ihrer Familie wünschen wir frohe und besinnliche Weihnachten und einige erholsame – vielleicht sogar dienstfreie –  Tage.

Michael Bernhard     Björn Hossfeld     Jürgen Knapp

2 thoughts on “Gesunder Menschenverstand vs. Evidenz

  1. Grandios! Vielen Dank für die wertvolle Arbeit auf news-papers.eu, frohe Weihnachten und ein gutes, erkenntnisreiches 2018. Ist eh viel angenehmer mit dem leeren Rucksack. Glück ab!

  2. Toller Beitrag! Wer sich noch intensiver mit den Höhen und Tiefen der evidenzbasierten Medizin auseinander setzen will, dem kann das Buch „stats.con“ von James Penston empfohlen werden. Hier werden alle Facetten möglicher Fehler bei wissenschaftlichem Arbeiten und Denken erläutert.
    Und dann gibt es noch einen mittlerweile historischen Artikel von Sir Austin Bradfor Hill aus dem Jahre 1965, der sich clever und leicht verständlich mit dem Unterschied zwischen Korrelation und Kausalzusammenhang (association and causation) beschäftigt. Er ist als PDF download unter folgendem Link verfügbar:
    https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1898525/

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