Wenn die Beine nicht mehr tragen

news papersEin Beitrag von PD Dr. med. Jürgen Knapp, Bern, Schweiz: 

Fallbeispiel: Ein Patient wird durch den Rettungsdienst zu Ihnen in die Notaufnahme gebracht, weil er während des Einkaufens in der Stadt „in sich zusammengesackt“ sei. Die Anamnese ergibt, dass der Patient schon die vergangenen Tage über eine Schwäche der Beine und Gangunsicherheiten klagte. Heute sei ihm nun beim Treppensteigen „die Kraft ausgegangen“. Bei der körperlichen Untersuchung stellen Sie einen Kraftgrad von 4/5 in beiden Beinen fest. Die Kraft in den Armen ist unauffällig. Auf genaueres Nachfragen gibt der Patient auch Parästhesien in beiden Beinen an.


Folgende Differentialdiagnosen gehen Ihnen durch den Kopf:

Guillain-Barré-Syndrom:

  • Typisch:
    • Beginn in den unteren Extremitäten
    • Zunehmende Schwäche und Ataxie der Beine und Arme
    • Bilaterale Parästhesien
  • sich über Stunden und Tage verschlechternde Symptomatik
  • aufsteigende Paralyse verursacht Störungen der Blasen- und Darmfunktion sowie Sprech- und Schluckstörungen
  • aufsteigende Paralyse betrifft auch die Atemmuskulatur, die eine Intubation erfordern kann

Zentrale pontine Myelinolyse:


Wernicke-Enzephalopathie:


Lambert-Eaton-Syndrom:

  • Typisch:
    • Schwierigkeiten beim Treppensteigen oder Aufstehen aus dem Sitzen aufgrund einer Schwäche der proximalen Beinmuskulatur
    • Mundtrockenheit
    • keine sensiblen Störungen

Myasthenia gravis:

  • Typisch:
    • Schwäche in Armen und Beinen
    • Häufig okuläre Symptomatik (z. B. Lidschwäche und/oder Doppelbilder)
    • Schluck- und Sprechstörungen
    • Sich im Lauf des Tages verschlimmernde Symptomatik, nach Pausen Besserung

Sie stellen die Verdachtsdiagnose eines Guillain-Barré-Syndroms. Die Liquordiagnostik zeigt die typische zytoalbuminären Dissoziation (Eiweiß 3,8 g/l, Zellzahl normal).

Einige zentrale Punkte zum Guillain-Barré-Syndrom:

  • Häufigste paralytische Neuropathie
  • Inzidenz ca 1 pro 100.000 Personenjahre
  • Pathogenese: vermutlich Autoantigene gegen körpereigenes Myelin-Protein, dadurch Demyelinisierung
  • Auslöser häufig respiratorische oder gastrointestinale Infekte (Durchfälle) 3 Tage bis 6 Wochen vor dem Auftreten neurologischer Symptome (in 30% Campylobacter jejuni)
  • Schwere generalisierte Form mit Intubationspflichtigkeit in 20-30%
  • Diagnose:
    • Klinisch!
  • Liquordiagnostik:
  • typisch zytoalbuminäre Dissoziation (normale Zellzahl bei erhöhten Proteingehalt)
    • Normwerte:
      • <5 Zellen/µl
      • <500 mg Protein/l
    • aber: normaler Proteingehalt schließt die Diagnose aber nicht aus, erhöhte Zellzahl (5-50/µl) bei 15% der Patienten
  •  Therapie:
    • Intensivmedizinische Überwachung (teils rasche Progredienz!)
    • Supportive Intensivtherapie (ggf. Beatmung, Schrittmacher-Anlage etc.)
    • Aspirationsgefahr (ggf. Magensonde anlegen)
    • Plasmaaustausch
    • Immunglobuline
  • Prognose: 5% der Patienten versterben, 20% erleiden schwere bleibende neurologische Schäden

Literatur

  • Yuki N, Hartung HP: Guillain-Barré-Syndrome. N Engl J Med 2012; 366:2294-304
  • Wilson HJ, Jacobs BC, van Doorn PA: Guillain-Barré syndrome. Lancet 2016; 388:717-27

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