Collateral damage?

Ein Beitrag von PD Dr. Jürgen Knapp Bern/Schweiz: 

Aktuell ist in Resuscitation eine sehr interessante Arbeit zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf den Ablauf und den Erfolg von prähospitalen Reanimationen (out-of-hospital cardiac arrest, OHCA) erschienen.

Ball J et al. Collateral damage: Hidden Q2 impact of the 3 COVID-19 pandemic on the out-of-hospital 4 cardiac arrest system-of-care. Resuscitation 2020; https://doi.org/10.1016/j.resuscitation.2020.09.017

Die Ambulance Victoria versorgt als einziges Rettungsdienstunternehmen eine Fläche von 227.500 km2 mit 6,4 Millionen Einwohnern. Jährlich werden die Teams zu 6500 prähospitalen Reanimationen alarmiert. In der Studie sollte untersucht werden, ob sich durch die aktuelle Pandemie Inzidenz, Charakteristik und das Ergebnis von prähospitalen Reanimationen verändert hat.

Die Studie kurz zusammengefasst:

Methodik:

  • retrospektive Kohortenstudie
  • ausgewertet wurden die Reanimationen bei OHCA in der Zeit vom 16. März bis 12. Mai der Jahre 2017 bis 2020
  • 2017 bis 2019 als „Kontrollgruppe“ und 2020 unter COVID-19-Pandemiebedingungen
  • dieser Zeitraum wurde gewählt, weil am 16. März 2020 in Australien der „State of Emergency“ ausgerufen wurde und am 12. Mai wesentliche Lockerungen der Maßnahmen erlassen wurden („Stage 3 release“)
  • keiner der prähospital reanimierten Patienten war Corona-positiv

Ergebnisse:

  • die Inzidenz des OHCA war in allen Jahren vergleichbar: 127/100.000 Einwohner im COVID-Jahr 2020 im Vergleich zu 123/100.000 in den Jahren zuvor.
  • es wurden aber 2020 bei signifikant weniger Patient die Reanimationsmaßnahmen begonnen als in den Jahren zuvor: 40,6% im Vergleich zu 46,9%, p=0,001
  • der Anteil der Patienten, die den OHCA im öffentlichen Raum erlitten, nahm deutlich ab: von 20,8% auf 10,0%, p<0,001
  • dementsprechend wurde auch bei deutlich weniger Patient eine Defibrillation durch Ersthelfer mittels AED durchgeführt (3,9% vs. 6,9%, p=0,037)
  • dagegen nahm die Quote der Laienreanimation im Jahr 2020 im Vergleich zu den Vorjahren signifikant zu: 78,7% im Vergleich zu 73,0%, p=0,027
  • obwohl das Einsatzaufkommen für den Rettungsdienst unter den Pandemie-Bedingungen in Australien viel geringer war als sonst, verlängerten sich die fürs Überleben der Patienten entscheidenden Zeiten im Jahr 2020 deutlich:
    • die mediane Zeit bis zur ersten Defibrillation nahm von 11,0 min (Interquartilenabstand: 9,0-17,0 min) auf 14,0 min (IQR: 10,0-19,5 min) zu, p<0,001
    • die Zeit bis zur ersten Adrenalin-Gabe war 2020 2 min später als in den Jahren zuvor
  • der Anteil der Patienten, die nach OHCA aus der Klinik entlassen werden konnten, hat sich 2020 fast halbiert von 11,7% auf 6,1% (p=0,002)
  • hochgerechnet auf 12 Monate ergibt das im Bundesstaat Victoria 128 zusätzliche Todesfälle unter den Pandemie-Bedingungen
  • auch wenn man per logistischer Regressionsanalyse die oben genannten Faktoren wie die Zeitverzögerungen, geringerer Einsatz von AED, bessere Laienreanimationsrate etc. herausrechnet, bleibt unter den Pandemie-Bedingungen immer noch eine reduzierte odds ratio für das Überleben auf den Faktor 0,46 (95%-Konfidenzintervall: 0,25-0,86, p=0,015) bestehen
  • dies führen die Autoren auf weitere (nicht registrierte oder gemessene) Einflussfaktoren zurück: möglicherweise trugen eine reduzierte Hands-on-Chest-Zeit oder der Verzicht auf aerosol-generierende Prozeduren wie endotracheales Absaugen oder die frühzeitige tracheale Intubation zum schlechteren Outcome bei, oder vielleicht liefen auch die innerklinischen Prozesse (Temperaturmanagement, Intensivpflege, Herzkatheter etc.) nicht mehr so gut wie vor der Pandemie

Fazit für uns:

  • Wir alle wissen ja, dass isolierte Patienten auf Intensivstation weniger häufig am Bett visitiert werden als nicht-isolierte Intensivpatienten, und dass eine Narkoseeinleitung beim z.B. aufgrund MRSA oder ESBL-Besiedlung isolierten Patienten deutlich länger dauert als normalerweise. Auch werden die meisten von uns schon die Erfahrung gemacht haben, dass die Leistungsfähigkeit des reanimierenden Teams in voller Schutzausrüstung sicher geringer ist als in normaler Dienstkleidung und die Intubation mit beschlagener Schutzbrille etwas länger dauert als normalerweise. Die Zahlen aus Australien zeigen nun eindrücklich, welchen Einfluss, das auf das Outcome unser Patienten hat. Dabei muss noch berücksichtigt werden, dass Australien eines der von der Pandemie am wenigsten betroffenen Länder ist. Die Inzidenz an SARS-CoV-2-Infektionen war in Frankreich, Italien und den USA bis zu 11-fach höher.
  • Wir stellen auch ausdrücklich fest, dass diese Daten nicht als Kritik an den Corona-Schutzmaßnahmen wie das verpflichtende Tragen der persönlichen Schutzausrüstung oder der Modifikation der Reanimationsleitlinien zu verstehen sind. Sie zeigen vielmehr, wie wichtig selbst kleine Verbesserungen von wenigen Minuten früherer Defibrillation oder die gut eingespielte, schnelle prä- und innerklinische Versorgung von Reanimationspatienten ist.

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