Nachteile des intraossären Zugangs bei der Reanimation?

Ein Beitrag von PD Dr. Jürgen Knapp, Bern/Schweiz: 

Wie für das Adrenalin auch fehlt für die Gabe von Antiarrhythmika bei der prähospitalen Reanimation die Evidenz dafür, dass sie den Anteil der Patienten, die den Herz-Kreislauf-Stillstand mit gutem neurologischen Ergebnis überleben, signifikant verbessert. 2016 hat der ALPS trial das Lidocain wieder ins Spiel gebracht, das einige Jahre nur noch Antiarrhythmikum der 2. Wahl beim Kammerflimmern bzw. der pulslosen ventrikulären Tachykardie war. In dieser großen randomisierten Studie zeigte Amiodaron und Lidocain hinsichtlich der Krankenhausentlassung und des neurologisch guten Überlebens gleich gute bzw. gleich schlechte Ergebnisse: beide waren in der Gesamtheit der Patienten nicht besser als Placebo, nur bei bezeugtem Herz-Kreislauf-Stillstand profitieren wohl die Patienten von Antiarrhythmika.

Kudenchuk PJ et al. Amiodarone, Lidocaine, or Placebo in Out-of-Hospital Cardiac Arrest. N Engl J Med 2016; 374:1711-22;  DOI: 10.1056/NEJMoa1514204

In einer schon vorab festgelegten erneuten Analyse der Daten des ALPS trials wurde nun versucht, die Frage zu beantworten, ob der Weg der Applikation der Antiarrhythmika (intraossär oder intravenös) eventuell einen Einfluss auf deren Wirksamkeit hat.

Daya MR et al. Survival After Intravenous Versus Intraosseous Amiodarone, Lidocaine, or Placebo in Out-of-Hospital Shock-Refractory Cardiac Arrest. Circulation 2020; 141:188–198. DOI: 10.1161/CIRCULATIONAHA.119.042240

Die Studie kurz zusammengefasst:

  • n=3.019 Patienten des randomisierten, doppel-blinde, Placebo-kontrollierten ALPS trials (Resuscitation Outcomes Consortium Amiodarone, Lidocaine or Placebo Study)
  • 55 Rettungsdienstorganisationen in Nordamerika
  • bei n=2.358 Patienten wurde das „ALPS-Medikament“ (Amiodaron, Lidocain oder Placebo) intravenös appliziert, bei n=661 intraossär
  • die Zeit vom Notruf bis zur ersten Applikation des Medikaments war in der i.o.- und i.v.-Gruppe gleich (19,3 und 19,4 min)
  • die Verteilung Amiodaron, Lidocain und Placebo war in beiden Gruppen jeweils ein Drittel
  • auch andere wichtige Einflussfaktoren bei der Reanimation wie Alter, Lokalisation, die Rate der Laienreanimation, der Gebrauch von AED, erfolgreiches Airway-Management und Thoraxkompressionsrate waren in beiden Gruppen vergleichbar
  • Unterschiede zwischen den Gruppen gab es im Geschlecht der Patienten und in der Zeit bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes (5.8±2.6 min in der i.v.-Gruppe vs. 5.4±2.2 min in der i.o.-Gruppe), so dass in der Analyse der Ergebnisse hierauf durch multivariable lineare Regression adjustiert werden musste
  • insgesamt lag die Krankenhausentlassungsrate bei 23% (Anmerkung: es waren ja nur Patienten mit defibrillierbarem Rhythmus eingeschlossen, das erklärt die hohe Zahl im Vergleich zum Gesamtkollektiv der prähospital reanimierten Patienten)
  • in der angepassten Analyse war die Chance einer Krankenhausentlassung um den Faktor 1,26 (95%-Konfidenzintervall: 1,06-1,50) erhöht, wenn Amiodaron i.v. appliziert wurde, bzw. um den Faktor 1,21 (1,02-1,45), wenn Lidocain i.v. verabreicht wurde.
  • wenn dagegen die Antiarrhythmika i.o. appliziert wurden, zeigte sich kein signifikanter Einfluss: die Chance auf Krankenhausentlassung war bei i.o.-Amiodaron 0,94 (0,66-1,32) im Vergleich zu Placebo, bei i.o.-Lidocain 1,03 (0,74-1,44), damit also genauso effektiv wie die Gabe von Kochsalz-Lösung als Placebo
  • die Chance auf neurologisch gutes Überleben war durch die i.v.-Gabe von Amiodaron um den Faktor 1,24 (1,02-1,52) erhöht, durch intravenöses Lidocain auf den Faktor 1,17 (0,95-1,44)
  • auch hinsichtlich des neurologisch guten Überlebens war die intraossäre Gabe sowohl von Amiodaron als auch von Lidocain vergleichbar mit Placebo: Amiodaron 0,94 (0,61-1,43) und Lidocain 0,96 (0,63-1,46)
  • in der Placebo-Gruppe zeigte sich kein Unterschied zwischen den Patienten, die mit einem i.v.-Zugang versorgt wurden, und denen mit einem i.o.-Zugang
  • Erklärungsansätze für den fehlenden Effekt der Antiarrhythmika-Gabe bei der intraossären Gabe gibt es mehrere:
    • sowohl Amiodaron als auch Lidocain sind (als Antiarrhythmika „zwangsweise“) lipophil und daher im Knochenmark deutlich besser löslich als im Blut
    • für den i.o.-Zugang wird meist die Tibia gewählt. Der Blutfluss von der unteren Extremität zum Herz über die untere Hohlvene ohne die Venenklappen und unter Thoraxkompression hohen venösen Drücken ist aber massiv reduziert, so dass die Medikamente möglicherweise nicht am Wirkort ankommen.

Fazit: Es handelt sich hier um eine Reanalyse einer Studie die hinsichtlich der Gabe von Amiodaron, Lidocain oder Placebo randomisiert war, nicht hinsichtlich des Zugangsweges. Daher müssen die Ergebnisse vorsichtig interpretiert werden und es ist sicher nicht angebracht, den i.o.-Zugang bei der Reanimation des Erwachsenen als nicht sinnvoll zu erachten, beim Säugling oder Kleinkind bestehen hier ohnehin keine Zweifel. Zugangsweg der 1. Wahl ist und bleibt aber bei der Reanimation des Erwachsenen sicher der i.v.-Zugang an der oberen Extremität. Falls ein i.o.-Zugang an der unteren Extremität notwendig ist, sollte an die Bolus-Gabe von Infusionslösung nach der Antiarrhythmika-Gabe oder eine Druckinfusion gedacht werden, um das Medikament aus dem Markraum „hinauszuspülen“. Ob die Anlage des i.o.-Zugangs am Humeruskopf bei der Reanimation effektiver ist, wäre ebenfalls noch interessant zu untersuchen.

Ganz aktuell ist übrigens die Reanalyse des PARAMEDIC2-trials erschienen, die die Fragestellung des Zugangsweges für das Adrenalin zu klären versucht. Auch diese Studie werden wir bald hier im Blog vorstellen.

Nolan JP et al. Intraosseous versus intravenous administration of adrenaline in patients with outofhospital cardiac arrest: a secondary analysis of the PARAMEDIC2 placebocontrolled trial. Intensive Care Med 2020; online first, https://doi.org/10.1007/s00134-019-05920-7

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