Blog: Roc rocks and sux sucks?

BergEin Beitrag von PD Dr. Jürgen Knapp, Bern/Schweiz:

Die alte Kontroverse, welches Muskelrelaxans zur notfallmäßigen Blitzintubation (rapid sequence induction, RSI) zu bevorzugen ist, wurde aktuell wissenschaftlich in einer randomisiert kontrollierten Studie aus Frankreich untersucht.

Guihard B et al. Effect of Rocuronium vs Succinylcholine on Endotracheal Intubation Success Rate Among Patients Undergoing Out-of-Hospital Rapid Sequence Intubation. A Randomized Clinical Trial. JAMA 2019;322(23):2303-2312. doi:10.1001/jama.2019.18254

Die Studie kurz zusammengefasst:

  • randomisierte Multicenter-Studie
  • Design: Nichtunterlegenheitsstudie von Rocuronium im Vergleich zu Succinylcholin. Der Begriff „Nichtunterlegenheitsstudie“ hört sich zwar kompliziert an, ist aber aus statistischer Sicht das passende Studiendesign zur Untersuchung von Interventionen/Medikamente, für die es bereits eine adäquate Version (in diesem Fall Succinylcholin) gibt. Wenn man ein neueres Medikament (in diesem Fall Rocuronium) mit der älteren Variante (Succinylcholin) vergleichen will, will man ja möglichst vermeiden, dass man die Überlegenheit des neuen Medikaments fälschlicherweise nicht erkennt. D.h. man will die Wahrscheinlichkeit, die Hypothese „Rocuronium = Succinylcholin“ fälschlicherweise zu bestätigen (eigentlich Fehler 2. Art), möglichst gering halten. Daher wird als Nullhypothese behauptet „Rocuronium ist nicht dem Succinylcholin unterlegen“ und es ergibt sich der etwas umständliche Ausdruck der „Nichtunterlegenheitsstudie“.
  • Untersuchungszeitraum: Januar 2014 bis August 2016
  • 17 Rettungsdienstbereiche in Frankreich
  • 1248 prähospitale Patienten, bei denen eine Narkose eingeleitet werden und eine endotracheale Intubation erfolgen musste, wurden randomisiert
    • ausgewertet werden konnten 610 Patienten in der Rocuronium-Gruppe
    • und 616 in der Succinylcholin-Gruppe
  • Dosierung:
    • Rocuronium 1,2 mg/kg Körpergewicht (geschätzt)
    • Succinylcholin 1 mg/kg Körpergewicht (geschätzt)
  • als Einleitungshypnotikum wurde entweder Ketamin 2 mg/kg oder Etomidate 0,3 mg/kg appliziert.
  • intubiert werden sollte 60 Sekunden gemäß Studienprotokoll nach Applikation des Muskelrelaxans. Wie lange tatsächlich die Anschlagszeit abgewartet wurde, wurde jedoch nicht gemessen.

Ergebnisse:

  • der first pass success (FPS) in der Succinylcholin-Gruppe betrug 74,6%, in der Rocuronium-Gruppe 79,4%, absolute Differenz -4,8%-Punkte (97,5%-Konfidenzintervall -9%-Punkte bis ∞). Damit ist der FPS statistisch in beiden Gruppen vergleichbar.
  • Insgesamt gelang die Atemwegssicherung bei allen bis auf einem Patient in der Succinylcholin-Gruppe, der letztlich erfolgreich koniotomiert wurde.
  • Die Intubationsbedingungen und die Einsehbarkeit der Stimmbandebene wurden von den intubierenden Ärzten ebenfalls in beiden Gruppen vergleichbar eingeschätzt.
  • in der Succinylcholin-Gruppe gab es signifikant mehr schwere Arrhythmien (definiert als ventrikuläre Tachykardie oder Kammerflimmern): 4,2% vs. 2,0% (-2,2%-Punkte, 95%-KI: -3,8- -0,7%-Punkte)
  • ebenfalls fanden sich in der Succinylcholin-Gruppe mehr hypotensive Phasen (definiert als systolischer Blutdruck <90 mmHg): 10,1% vs. 6,4% (-3,7%-Punkte, 95%-KI: -6,8 – -0,3%-Punkte)
  • dementsprechend war bei Succinylcholin-Gabe in 16,5% der Fälle unmittelbar nach Einleitung die Gabe von Noradrenalin notwendig im Vergleich zu 9,9% in der Rocuronium-Gruppe (-6,6%-Punkte, 95%-KI: -10,8 – -1,9%-Punkte)
  • dagegen waren in der Rocuronium-Gruppe mehr Intubationsversuche notwendig: im Schnitt 1,4±0,8 Versuche im Vergleich zu 1,3 ± 0,6 Versuchen in der Succinylcholin-Gruppe (p<0,001)
  • 4 oder mehr Intubationsversuche waren in 1,6% der Patienten der Rocuronium-Gruppe und 0,5% der Patienten, die mit Succinylcholin relaxiert wurden, notwendig (p=0,01)

Fazit:

Die Schlussfolgerung der Studie lautet, dass Rocuronium hinsichtlich des FPS dem Succinylcholin vergleichbar ist. Die höhere Anzahl an Intubationsversuchen in der Rocuronium-Gruppe lässt sich für mich am ehesten dadurch erklären, dass wir beim Succinylcholin durch die meist sichtbaren Muskelfaszikulationen eine „natürliche Stoppuhr“ haben, die uns anzeigt, wann das Muskelrelaxans wirkt. Möglicherweise hat man in der Rocuronium-Gruppe einfach ohne Zeitmessung und in der stressigen Notfallsituation zu früh mit dem Intubationsvorgang gestartet. Hinzu kommt, dass bei Notfallpatienten mit stark reduzierten Herzzeitvolumen und/oder zentralisiertem Kreislauf die Anschlagsdauer von Medikamenten (und insbesondere Muskelrelaxanzien) deutlich länger ist als die „lehrbuchmäßigen“ 60 Sekunden. Die relevanten hämodynamischen Nebenwirkungen in der Succinylcholin-Gruppe (4,2% der Patienten mit einer ventrikulären Tachykardie oder Kammerflimmern!) und der deutlich häufigere Bedarf an Noradrenalin sprechen aber aus meiner Sicht ganz klar für den Verzicht auf Succinylcholin und für den Einsatz von Rocuronium, mit dem solche Komplikationen deutlich seltener auftreten. Wichtig ist eine exakte Zeitmessung mittels Armbanduhr eines der Teammitglieder beispielsweise. In diesem Zusammenhang auch noch der Praxistipp: Rocuronium enthält viel Essigäure und hat einen pH von ca. 4. Es brennt daher den wachen Patienten bei der Applikation im Rahmen der klassischen RSI, wo ja der Wirkeintritt des Hypnotikums bis zur Applikation des Relaxans nicht abgewartet wird. Falls der Patient also noch nicht aufgrund der Schwere seiner Verletzung oder Erkrankung oder durch die schon einige Minuten zurückliegende Gabe eines potenten Opioids (Fentanyl, Sufentanil) schon deutlich bewusstseinsgetrübt ist und auf Schmerzreize noch reagiert, sollte man – falls es der Zeitdruck irgendwie zulässt – ähnlich wie im OP-Alltag bei der Gabe von Propofol die Vene durch die Vorweg-Gabe von ein 2-3 Milliliter Lidocain 10% unempfindlich machen.

Darüber hinaus gibt es für die Anwendung von Succinylcholin klare Kontraindikationen wie beispielsweise eine länger bestehende Immobilisation durch Bettlägerigkeit oder Lähmungen (nach Apoplex, Trauma etc.), die Gefahr der schweren Hyperkaliämie (insbesondere bei vorstehender Niereninsuffizienz mit einem bereits grenzwertig hohen Kalium-Spiegel bereits vor Gabe von Succinyl), die einen relevanten Anteil unserer Notfallpatienten betreffen. Hinzu kommt natürlich noch  die Gefahr der Auslösung einer malignen Hyperthermie. All diese Gefahren bestehen bei Rocuronium nicht.

Die Konsequenz für mich ist also tatsächlich: Roc rocks and Sux sucks!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.